Kathputli Colony war Delhis grösster Artisten-Slum. Hunderte Puppenspieler*innen, Musiker*innen, Tänzer*innen, Zauberkünstler*innen, aber auch Arbeiter*innen aus allen Teilen Indiens lebten hier auf engstem Raum bis die Regierung beschloss, den Slum abzureissen und die Bewohner in Hochhäuser umzusiedeln.
Im Film «Delhi Dreams» porträtieren Yamini Deen und Christof Schaefer die Gemeinschaft und begleiteten Vijay (22), Rahul (21) und Kusum (17), durch eine Zeit, die geprägt ist von äusseren und inneren Umwälzungen. Entstanden ist ein intimes und faszinierendes Sozialportrait dieser traditionellen Künstlergemeinschaft, die zunehmend an den inneren Widersprüchen, die sich durch das Bauvorhaben auftaten, zu zerbrechen drohte.
Im Interview erzählt die Inderin Yamini Deen von ihren Begegnungen an diesem einzigartigen Ort und wie das moderne Indien sein kulturelles Erbe einfach ausradierte.
Sie sind Fernseh- und Printjournalistin und leben mittlerweile in der Schweiz. Im Film steht ihre Heimat Indien im Fokus – es geht um Kathputli Colony, Delhis einstigem und grössten Artisten-Slum. Was ist ihre Verbindung zu diesem Ort und wie kamen Sie zu diesem Dokumentarfilm?
Yamini Deen: Ich fühlte mich berufen, diese Geschichte zu erzählen, weil ich Indien liebe und eine authentische Geschichte über das Land erzählen wollte. Ursprünglich bin ich in die Kathputli Colony gegangen, um eine Reportage über den Plan der Regierung zu machen, die Kolonie abzureissen. Viele Künstler, die hier lebten, haben Indien auf Festivals in der ganzen Welt vertreten, aber in ihrem eigenen Land werden sie nicht respektiert. Bei unseren Recherchen verbrachten wir viel Zeit vor Ort, tranken unzählige Tassen Chai und lernten die Menschen kennen. Mit der Zeit wurde uns klar, dass sich durch die Linse dieser Künstlergemeinschaft die Geschichte Indiens abzeichnete. Wie bewahren wir unsere Traditionen, während wir uns dem modernen Leben öffnen? Wie sehr ist unsere Gegenwart durch das Trauma unserer kolonialen Vergangenheit geprägt? Wie können wir die unermessliche Schönheit der Kunst und Musik zeigen, die diese Gemeinschaft der Welt geschenkt hat? Das ist es, was uns inspiriert hat.
Die Regierung hatte 2014 beschlossen, den Slum abzureissen und die Bewohner*innen in Hochhäuser umzusiedeln. Was war der Auslöser und die Begründung und wie wurde dieser Entscheid von der Bevölkerung in Delhi aufgenommen?
YD: Dafür gibt es zwei Hauptgründe. Die kolonisierten Länder stehen unter dem immensen Druck, sich an ein westliches Stadtideal zu halten. Die Idee war, dass Delhi eine Weltklasse-Stadt sein und daher auch «slumfrei» sein sollte. Niemand denkt an die Freiheit der Menschen in den Slums und an das, was sie wollen. Ausserdem lebten die Menschen schon in Kathputli Colony, bevor die Delhi Development Authority, die für dieses Projekt zuständige Regierungsorganisation, gegründet wurde. Wie konnten sie also entscheiden, dass Kathputli Colony nicht genehmigtes Land ist? Natürlich gibt es echte Probleme, mit denen die Menschen in einem Slum konfrontiert sind, wie z. B. der Mangel an gutem Trinkwasser. Die Lösung der Regierung bestand darin, die Menschen in Hochhäuser umzusiedeln, aber das geschah, ohne die Menschen nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Auf dem Papier mag es schön klingen, den Menschen Wohnungen zu geben. Aber weil solche Projekte so lange dauern, bleiben viele Menschen auf der Strecke und sind gezwungen, in die Slums zurückzukehren. Mehr darüber erfahren Sie in dem Film.
Den Bewohner*innen ging es nicht nur darum, dass ihr Zuhause sondern auch ihre Identität und ein Teil ihrer Geschichte genommen wurde. Kathputli Colony war mehr als nur ein Stadtteil. Wie haben Sie die Verbindung der Bewohner*innen zu Kathputli Colony wahrgenommen?
YD: Wie Sie im Film sehen werden, tut ein arroganter Regierungsbeamter diese Künstler als «süchtig nach einem Leben unter unmenschlichen Bedingungen» ab. Doch für die Bewohner ist ihr Land fast heilig. Viele Generationen haben dort gelebt und sind gestorben – wie Bhagwan Das, einer der besten Sänger, die ich je kennen gelernt habe. Am Ende des Films singt er «Die Welt ist ein Basar» – alles steht zum Verkauf, auch ihr Zuhause. Ich möchte die Dinge nicht romantisieren. Manche Menschen sind weniger privilegiert als die Künstler. Sie leben in Blechhütten und wären in einer Wohnung wahrscheinlich besser aufgehoben und würden sich eine wünschen. Die Realität ist aber viel komplexer als eine einfache Geschichte von einer bösen Regierung gegen unschuldige Menschen. Wir wollten diese komplexen Aspekte herauskristallisieren, denn es ist wichtig, sie zu verstehen, wenn es um solche Entwicklungsthemen und um Probleme geht, mit welchen die Welt heute konfrontiert ist. Nichts ist schwarz oder weiss.
Wie können wir uns das einstige Kathputli Colony vorstellen?
YD: Kathputli Colony war eine lebendige und vielfältige Gemeinschaft. Ständig hörte man Trommelklänge. Jemand machte duftendes Biryani (Reisgericht) auf der Strasse. Kinder diskutierten darüber, warum die meisten Geister weiblich sind.
Wie hat sich das Projekt auf die Stadtentwicklung in Delhi ausgewirkt?
YD: Viele indische Städte haben versucht, die Slumbewohner in Hochhäuser umzusiedeln. Das hat nie wirklich funktioniert. Ein wirklich inklusiver Ansatz, der die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt, ist noch nicht gefunden worden. Ein Slum ist ein komplexer Organismus – er lässt sich nicht in ein Hochhaus transportieren. Diese Lektion wurde noch nicht gelernt.
Sie haben während der Recherche drei junge Inder*innen kennengelernt und in diesem Prozess begleitet, wo leben diese Personen heute? Wie haben sich die Entwicklungen auf ihre Lebensumstände ausgewirkt?
YD: Rahul ist ein idealistischer junger Mann, der die Tradition des Puppenspiels seiner Familie bewahren und mit zeitgenössischem Tanz verbinden möchte. Er skyped heute regelmässig mit seinem Mentor in Amsterdam, um das Tanzen zu lernen. Kusum ist eine temperamentvolle, mutige und wild rebellische Frau, die davon träumt, Tänzerin zu werden und eines Tages zu studieren. Vijay ist eine natürliche Führungspersönlichkeit, der seine Ausbildung als Ingenieur nutzen möchte, um seine Gemeinschaft zu stärken. Wir haben die drei jungen Menschen vier Jahre lang begleitet und gesehen, wie sie einen intensiven Prozess durchlaufen haben – sowohl persönlich als auch politisch, denn sie waren mit dem Verlust des einzigen Zuhauses konfrontiert, das sie kannten. Sie konnten diesen Prozess verfolgen und herausfinden, wohin ihre Wege führen. «Delhi Dreams» ist ein intimes Porträt, das eine bedrohte Gemeinschaft mit den Augen dieser jungen Menschen betrachtet. Und doch werfen ihr Leben und die Entscheidungen, die sie treffen müssen, wichtige Fragen über Indien auf, ein Land im Wandel.
Was hat Sie am meisten berührt bei der Dokumentation dieser Geschichten?
YD: Zwei Dinge, einerseits finde ich es inspirierend und berührend, dass die Menschen eine so starke Widerstandsbewegung gegen die Regierung aufgebaut haben. Egal, wie machtlos sie sich fühlten, sie wehrten sich auf äusserst kreative Weise. Und andererseits den drei Protagonisten dabei zuzusehen, wie sie für ihren Traum kämpfen und durch den Prozess der Filmherstellung wachsen.
Was war für Sie die grösste Herausforderung bei der Produktion des Dokumentarfilms?
YD: Kathputli Colony ist eine komplexe Gemeinschaft, in der viele verschiedene Meinungen aufeinanderprallen. Die dortigen NGO's wollten, dass die Menschen protestieren. Die Immobiliengesellschaft wollte das Land verkaufen und von dem Einkaufszentrum profitieren, das sie dort bauen wollte. Die Regierung hatte die Absicht, Delhi zu sanieren. Die Menschen waren durch diese verschiedenen Kräfte gespalten. Wir mussten lernen, in einem derart aufgeladenen Umfeld sensibel und unaufdringlich zu arbeiten. Das war ein alltäglicher Prozess.
Wieso sollte man diesen Film nicht verpassen?
YD: Die Tatsache, dass ich Inderin bin und das Privileg hatte, den Menschen in dieser Gemeinschaft, insbesondere den Frauen, sehr nahe zu sein, ermöglichte es mir, eine Intimität einzubringen, die man selten auf der Leinwand sieht, vor allem in Filmen über Indien, die von Westlern gemacht werden. Christof ist Schweizer und bringt eine wertvolle Aussenseiterperspektive in den Film ein. Indien ist ein komplexes Land. Was auch immer man über es sagt, auch das Gegenteil könnte zutreffen. Wir haben versucht, etwas von dieser Komplexität zu vermitteln.
Die Geschichte ist zwar herzzerreissend, aber die Schönheit, welche die Menschen durch ihr Puppenspiel, ihre Musik, ihren Humor, ihre Freude und ihren Willen, gegen alle Widrigkeiten zu kämpfen, zum Ausdruck bringen, ist hoffnungsvoll. Dies ist nicht nur eine Geschichte über Menschen in einem fernen Land, die mit Diskriminierung zu kämpfen haben. Ich glaube, auch Schweizer*innen oder Ungar*innen können sich in die Triumphe und Kämpfe der Menschen hineinversetzen.
Deutschschweizer Kinostart von «Delhi Dreams» ist am 17. März 2022.
Der Film wurde während sieben Jahren von Christof Schaefer und Yamini Deen realisiert. Der Basler Dokumentarfilmer und die indische Fernseh- und Printjournalistin lernten sich bei einem Videodreh in Indien kennen. Heute sind die beiden verheiratet und leben mit ihrem gemeinsamen Sohn in Zürich.