Lange wuchsen auf dem Vitra Campus in Weil am Rhein nur Gebäude in die Höhe. Der Landschaftsgestaltung wurde wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Geschichte des Campus begann in den 1950er-Jahren sogar mit der Zerstörung des wunderschönen Gartens der Tante seiner Mutter, erinnert sich Rolf Fehlbaum, Chairman Emeritus von Vitra. «Das ist quasi unsere Erbsünde», meint er schmunzelnd. Erst mit der Verbindung des nördlichen Teils des Campus mit dem südlichen und den Projekten von Álvaro Siza (Siza Promenade) und Günther Vogt kam es wieder zu landschaftsbezogenen Interventionen. Schliesslich stiess Fehlbaum an der Architekturbiennale in Venedig auf einen Garten des niederländischen Gartengestalters Piet Oudolf – und war hin und weg. So reifte langsam die Idee eines Gartens auf dem Vitra Campus heran, bis Fehlbaum vor drei Jahren Piet Oudolf einen Brief schrieb und fragte, ob er Interesse hätte, einen Garten auf dem Campus zu gestalten. Dieses Jahr steht nun das Resultat dieser Zusammenarbeit in voller Blüte: Zwischen dem VitraHaus und dem Produktionsgebäude von Álvaro Siza erstrahlt der neue Oudolf Garten auf über 4000 Quadratmetern in voller Farbenpracht.
Piet Oudolf gilt als Vordenker einer Generation von Gartengestalter*innen, die in den späten 80-Jahren begannen, die gängigen Praxen der Landschaftsgärtnerei in Frage zu stellen. Diese schienen ihnen zu dekorativ, arbeitsaufwendig und ressourcenintensiv. Neu setzten sie vermehrt auf mehrjährige, selbstregenerierende Pflanzen, Stauden, Büsche und Wiesenblumen, die als Gartenpflanzen lange ignoriert wurden. Oudolf selbst sieht sich nicht als Begründer einer Bewegung. «Ich überlasse es anderen, was sie in mir sehen wollen, für einige Leute bin ich wohl einfach ein Gärtner», meint er gelassen. Ein Gärtner allerdings, den man in den letzten Jahren mit der Gestaltung von öffentlichen Gärten auf der ganzen Welt betraut hat, darunter Aufträge für die Galerie Hauser & Wirth Somerset, die Serpentine Galleries, die Biennale in Venedig oder die New Yorker «High Line».
Ich versuche eigentlich nur, die Fantasien der Leute in die Realität umzusetzen.
Oudolfs Projekten gemeinsam ist die Idee einer Landschaft, die wild und ungezähmt aussieht, in Wirklichkeit jedoch äusserst durchdacht ist. Er spielt dabei viel mehr mit unseren Vorstellungen, unseren Träumen einer Wildnis: «Ich versuche eigentlich nur, die Fantasien der Leute in die Realität umzusetzen», so Oudolf. Bei der Gestaltung dieser Fantasien achtet er auf eine ausgewogene Zusammensetzung oder «Community», wie er es nennt, von Pflanzen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen, Blütezeiten und Lebenszyklen, sodass seine Gärten ein ganzes Jahr über ein sinnliches Erlebnis und ein sich ständig wandelndes Erscheinungsbild bieten. Es geht nicht nur um die Ästhetik der Hochsaison, sondern eben auch um die Ästhetik des Vergehens.
Dies setzt eine minutiöse Organisation voraus, die neben einem strengen Zeitplan und einer intensiven Suche nach den richtigen Pflanzen ein Bepflanzungsschema umfasst, das einem Kunstwerk gleicht. Das kann man auch von den Zeichnungen behaupten, die dem Oudolf Garten auf dem Vitra Campus zugrunde liegen. Rund 30'000 Pflanzen, darunter Gewächse mit so geheimnisvollen Namen wie Echinacea pallida – «Hula Dancer» – oder Molinia – «Moorhexe» – sind zum Einsatz gekommen. Das Terrain ist vorwiegend flach, hie und da erhebt sich ein sanfter Hügel, der zum Verweilen einlädt. Einzig in der Mitte findet sich mit einem alten Kirschbaum – das Gelände des Vitra Campus war früher voll von diesen Bäumen – ein vertikales Element. Der Garten zieht die Aufmerksamkeit der Besucher*innen von den Gebäuden auf den Boden und bringt sie mit seinen mäandrierenden Wegen in einen Zustand der inspirierenden Desorientierung. «Ich möchte, dass sich die Leute im Garten verlieren, statt einfach nur hindurchzulaufen», sagt Oudolf, dem viel daran gelegen ist, dass den Besucher*innen seiner Gärten dasselbe widerfährt wie ihm – nämlich eine ebenso emotionale wie ästhetische Erfahrung.
Genau dieses Auf-den-Boden-Bringen erlebte ich selbst, als ich durch den Garten spazierte. Die abwechslungsreiche Bepflanzung schafft einen hypnotisierenden Teppich aus Farben und Texturen, der durch den Wind, die rege summenden Bienen oder das sich verändernde Licht ständig in Bewegung scheint. Die Aufmerksamkeit wird hin zu kleinen Details gezogen, man schaut nach unten, nach links, nach rechts – überall gibt es etwas Neues zu entdecken! Und plötzlich, wenn man den Blick wieder ausschweifen lässt über die sanften Wellen des Blumenmeers bis hin zum VitraHaus in der Ferne, bemerkt man, dass man beim Beobachten der Wildbienen oder beim Bewundern der Farbkontraste komplett die Zeit vergessen hat.
Der Oudolf Garten wurde im Mai 2020 angelegt und erreicht im Sommer 2021 erstmals seine Hochblüte. Erleben Sie die kunstvoll komponierte Wildnis auf dem Vitra Campus.