Etwa eine Stunde ausserhalb von Lissabon, nach einer zehnminütigen Fahrt auf einer staubigen Strasse, erblickt man es plötzlich: das Haus Fonte Das Perdizes. Umgeben von Wiesen und Korkeichen, integriert es sich ganz natürlich in die hügelige Landschaft des Alentejo. «Die Farben hier sind lebendig, die Palette ändert sich von einer Jahreszeit zur nächsten in einer ständigen Bewegung», so Emma Pucci und Valentina Pilia, die zwei Gründerinnen des in Lissabon ansässigen Textildesignstudios Flores. Dieses Projekt gab dem Duo die Möglichkeit zu zeigen, wie sie lokale Materialien meisterhaft neu interpretieren.
Das Haus verfolgt einen radikalen architektonischen Ansatz, der auf Kunstgriffe verzichtet und bewusst darauf abzielt, sich perfekt in die Umgebung einzufügen. Hier muss ich als Übersetzerin dieser Textvorlage unterbrechen. Denn als Autorin zahlreicher Wohn- und Architekturgeschichten sind mir inzwischen die Synonyme für «harmonisch» und «integrieren» längst ausgegangen. Fast jedes Projekt, über das ich berichte, verfolgt inzwischen diesen «radikalen» Ansatz, dass es lokale Landschaftsmerkmale, Farben und Materialien aufgreift, um sich möglichst harmonisch in seine Umgebung zu integrieren. Worin genau liegt also die Radikalität dieser Bauweise? Und wieso ist sie so omnipräsent?
Eine grundlegende Annahme, wenn man ein Bauwerk in Harmonie mit der Natur als radikal empfindet, ist wohl die in der Gesellschaft immer noch tief verankerte Vorstellung, dass Natur und Kultur grundsätzlich in einem Gegensatz zueinander stehen. Von Menschenhand Geschaffenes ist ein Eingriff in die unberührte Natur, lässt sich mit dieser nicht vereinen, ist ein Fremdkörper. Genau davon scheint sich die heutzutage so omnipräsente Ästhetik, die im Einklang mit der Umgebung sein soll, jedoch abzuwenden. Ist das Radikale an ihr also eine Sehnsucht danach, Natur und Kultur wieder eins werden zu lassen? Und kann sie etwas darüber aussagen, wie dies gelingt?
Zurück zum Projekt: Architekt Gonçalo Bonniz hat die vorhandenen Steineichen auf dem Grundstück bewusst stehen gelassen und mit Farben und Materialien gespielt, welche die natürliche Umgebung nicht stören. Dabei hat er eine Palette gewählt, die die Landschaft ringsum ergänzt: dunkelgrauer Beton, Holz, Schiefer und Glas waren seine gewählten Materialien. Das flache Gebäude erhebt sich zudem nur leicht über das Terrain und vermittelt so einen Eindruck des Eintauchens.
«Die Idee war, ein Haus zu schaffen, das sich konsequent der Natur zuwendet, ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen können.»
Diese Verbindung mit der Natur setzt sich im Inneren fort, vor allem dank eines beeindruckenden 35 Meter breiten Fensters, das die Grenzen zwischen Innen und Außen verwischt und viel Licht in die Räume strömen lässt. «Die Idee war, ein Haus zu schaffen, das sich konsequent der Natur zuwendet, ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen können. Alles ist auf diesen Austausch ausgerichtet, und das einfache und doch anspruchsvolle Design des Hauses fügt sich perfekt in die Landschaft ein», so Pucci und Pilia.
Hinzu kommt nun der Aspekt der Reduziertheit – denn Eins Sein mit der Natur ist doch das Einfachste der Welt, ein Zurück zu den Wurzeln, oder nicht?
Der architektonische Minimalismus steht im Einklang mit der beabsichtigten Funktion des Hauses, denn die Eigentümer:innen wollen mit den Produkten aus ihrem Gemüsegarten Meditations- und Kochkurse veranstalten. Genauso sparsam gingen Pucci und Pilia auch die Inneneinrichtung an. Die Idee war, alles Überflüssige loszuwerden und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – mit anderen Worten: weniger oberflächliche Details, dafür mehr Substanz. Trotz eines Dekorationsschemas, das man fast als klösterlich bezeichnen könnte, fehlt es nicht an Wärme und Sanftheit. Dies nicht zuletzt wegen dem durchgängig verwendeten Farbschema, einer Palette von Erd-, Ocker- und Nudetönen, Graugrün und Beige.
«Wir haben uns der Herausforderung gestellt, unser Fachwissen und unsere Vision auf portugiesische Traditionen zu übertragen.»
Die Gründerinnen von Flores haben viele Stücke eigens für das Projekt entworfen, wie z. B. Tische aus Massivholz, Lampen aus Junco (ein Material, das normalerweise für Körbe verwendet wird) und glasierte Keramikmöbel. Sie arbeiteten eng mit lokalen Webern zusammen, um originelle Textilmuster zu kreieren und entwarfen sogar eine eigene Farbpalette für das Geschirr. «Wir haben uns der Herausforderung gestellt, emblematische portugiesische Materialien und Handwerkskunst in einer sparsamen Weise zu verwenden, unser Fachwissen und unsere Vision auf portugiesische Traditionen zu übertragen und mit Kunsthandwerkern maßgeschneiderte Stücke anzufertigen.» Materialien, Oberflächen, Linien und Farben – alles wurde durchdacht, um zu einem nüchternen und harmonischen Ergebnis zu gelangen. Dabei wurde nichts dem Zufall überlassen, jedes noch so kleine Detail sorgfältig geplant, sodass schlussendlich alles ganz natürlich da zu sein scheint, wo es hingehört.
Ein:e zynische:r Leser:in würde wohl argumentieren, dass der sorgfältig kuratierte Anschein von Natürlichkeit beweist, dass das Einssein mit der Natur eben genauso künstlich ist wie jeder andere gestaltete Raum, der keine solchen Ambitionen hat. Doch so ein:e zynische:r Leser:in würde gleichzeitig die Natur-Kultur Dichotomie aufrechterhalten. Viel mehr könnte man das sorgfältige ästhetische Bestreben nach Harmonie mit der lokalen Umgebung auch als die Sorgfalt lesen, die es benötigt, um eben in einer symbiotischen Harmonie mit dieser Umwelt zu leben. Und dass Natürlichkeit schlussendlich nur Schein ist, deckt auf, dass unser Bild von «unberührter Natur» eben nur das ist – ein Bild. Viel mehr könnte man argumentieren, dass ein unberührter Raum gar nicht existiert, denn auch die Natur gestaltet – durch Flora und Fauna, durch Wind und Wetter, durch Zeit. Wieso können wir also nicht Kollaborateure, viel mehr als Gegner sein?