Keine Tankstelle, keine Bank, dafür mehr Vogelarten als Einwohner: Iraklia, die östlichste Insel der Kleinen Kykladen, bietet vor allem raue Schönheit. Nur gerade zwei Dörfer gibt es, Agios Georgios nahe des Hafens und das kleinere Panagia im hügeligen Zentrum der Insel. Zu Mittelalterzeiten suchten hier Piraten Zuflucht, ausserdem, so der Mythos, liegt im Südosten die Höhle des Zyklopen Polyphem, Sohn des Poseidon und Feind von Odysseus. Bei dessen Flucht, so die Sage, soll der Riese gewaltige Steinbrocken nach ihm geworfen haben – die kleinen Felseninseln Mikros Avelas und Megalos Avelas. Die Höhle zumindest existiert tatsächlich. In der Nähe liegen noch grössere, die Johannes dem Täufer gewidmet sind und mit ihren Stalaktiten als schönste Höhlen der Kleinen Kykladen gelten.
Iraklia fehlt die glanzvolle Patina anderer Ägäis-Inseln. «Sie ist ungeschliffen, karg, manchmal abweisend. Hier spürt man noch das Griechenland vergangener Zeiten», so Chicco Ceceri. Der Anwalt aus Neapel hatte Iraklia vor Jahren per Zufall entdeckt und sich sofort verliebt. Zusammen mit seinem Partner Nicola Vellano machte er sich auf die Suche nach einem Sommerhaus. «Als wir das verwahrloste Gebäude am Rand von Panagia besichtigten, spürten wir schon beim Betreten der Terrasse, dass dies das Haus ist, das wir gesucht hatten», so Nicola Vellano.
Die Sanierung übernahmen Katerina Vordoni und Fania Sinanioti von Vois Architects. Die Athener Architektinnen verstanden sofort, was Ceceri und Villano am Herzen lag: Es sollte so wenig wie möglich eingegriffen werden, um die Anmut des alten Bestands zu wahren. Zentrum des rechteckigen Hauses ist der historische Kern: Küche, Wohnzimmer und Studio sind aus massivem Stein gebaut, die übrigen Zimmer wurden im Lauf der Jahrzehnte aus Kimentolithos hinzugefügt, einer Verbindung aus Schotter und Mörtel. Gemäss der traditionellen Kykladischen Architektur wurde der Kern des Flachdachbaus streng geometrisch und ohne jede Verzierung gestaltet. Auch die Ausrichtung nach Südosten ist typisch. Die dicken, weiss gestrichenen Mauern weisen die Hitze ab, die Fenster ermöglichen trotz ihrer geringen Grösse eine optimale Durchlüftung. Im historischen Teil des Hauses wurden kaum Eingriffe vorgenommen. Sogar die ausgesprochen tief liegenden Querbalken zwischen Wohnzimmer und Studio wurde belassen. Etwas mehr Freiheit blieb den Architektinnen im neueren Teil. Sehen kann man dies nicht: Schlaf- und Kinderzimmer, Flur und Badezimmer fügen sich harmonisch in das Gesamtbild ein.
Die Ausführung der Arbeiten vertrauten Villano und Ceceri Martin Pedi an, der ihnen das Haus vermittelt hatte. Zuvor hatten sie Gespräche mit einer Reihe anderer Bauunternehmer geführt; überzeugt hatte keiner. «Es fehlte der Respekt für die Vergangenheit eines Gebäudes. Wir wollten nicht, dass die Patina verloren geht. All die glatten Wände, die scharfen Kanten – da liegt keine Poesie drin», erklärt Ceceri. «Martin dagegegen ist unglaublich talentiert. Er hat die Arbeiten souverän und feinfühlig durchgeführt, und das in einem beachtlichen Tempo. Ende März stand hier noch ein baufälliges Haus, im August zogen wir ein. Und es fühlte sich an, als sei es schon immer so gewesen wie jetzt.»