Wir verlassen die Autobahn und dann Siena auf der SR2 in Richtung Val d‘Orcia, Teil vom Weltkulturerbe UNESCO. Mit dem verringerten Fahrtempo setzen sich die toskanischen Hügel in Bewegung: Seitlich an uns vorbeirollend, balancieren sie auf ihren Kämmen kleine Ortschaften und einzelne Häuser, zu denen zypressengesäumte Strassen hochführen. Das Licht ist gleissend hell wie Scheinwerfer und gleichzeitig von umarmender Wärme. Die akustische Kulisse verlässt sich auf das wiederkehrende Gezirp und Gurren von Grillen und Tauben. Alles wirkt weich wie Samt, selbst der Wind. In diesem liegen Duftschwaden von Feigenbäumen und kochendem Sugo und wie wir am Zielort Bagno Vignoni ankommen, gesellt sich ein feiner Schwefelgeruch dazu: Der kleine Ort ist um eine natürliche Therme gebaut, von dem das heisse Mineralwasser in Kaskaden den Hügel hinuntersprudelt – unter anderem auch in das Poolbecken des Albergo Posta Marcucci, unsere Unterkunft für das Wochenende. Das Hotel liess die Familie Marcucci 1956 in einem aufgelassenen Weinberg bauen, als zeitgemässe Form der Poststation, die hier Mitte des 19. Jahrhunderts mit Lebensmittelhandel und Gastwirtschaft entstanden ist. Ein Ort mit Geschichte, an dem das Leben mit Genuss und sanfter Hingabe gefeiert wird.
Crostoni lardo e pecorino. Der Gedanke, ob die Vorspeise im Hinblick auf das angekündigte Menu dalla Tradizione Toscana sinnvoll, weil äusserst nahrhaft ist, löst sich mit dem ersten Bissen in Luft auf und vermengt sich mit dem Dampf des Thermalbades, das direkt unter dem Speisesaal liegt. Das Gericht und alle darauffolgenden sind eine Ode an den Genuss, eine Sinfonie an die Schönheit des Lebens, und es fällt schwer, den Blick vom Teller auf die Aussicht über das Val d’Orcia zu lenken. Die von Jungkoch Matteo Antoniello zubereiteten hausgemachten Gerichte, klassische wie auch experimentelle Geschmackskombinationen, sind die kulinarische Umsetzung der Hotelphilosophie, die das Albergo Posta Marcucci für seine Gäste in allen Bereichen erlebbar zu machen sucht: geniessen, wertschätzen, entschleunigen. Vorsätze, die sich inmitten der toskanischen Hügel möglicherweise einfacher umsetzen lassen als anderswo. Glücklicherweise scheinen weder das kleine Bagno Vignoni, noch das Hotel unter dem Druck des modernen Tourismus zu zerbrechen. Die Zeit ist nicht stehen geblieben, sie läuft lediglich in einem Tempo, das auf dem Tachometer unserer Gesellschaft bis anhin viel zu selten angezeigt wurde, und das Personal verfügt noch über jene herzliche Bereitschaft, den Gast nicht als zahlenden Kunden, sondern als Menschen wahrzunehmen. Hinter dieser aussergewöhnlichen Haltung steht die Familie Costa, die das Hotel 2017 von den Marcuccis übernommen hat. Dabei handelte es sich bei den Costas nicht um fremde, unbekannte Investoren: Sie waren über Jahrzehnte hinweg Gäste in der Toskana. Umgekehrt sind die Marcuccis heute wiederum Wintergäste in den beiden anderen Hotels der Costas: dem Berghotel Ladinia oder dem La Perla. Coca-Cola findet man auf keiner der Getränkekarten – wenn möglich wird auf Produkte internationaler Grosskonzerne verzichtet. Zudem werden ausschliesslich europäische Weine serviert, viele davon biologische, und an Freitagen machen vegetarische Optionen darauf aufmerksam, dass der Verzicht auf Fleisch kein Verzicht auf gutes Essen ist. Dies alles geschieht in einer unaufgeregten Selbstverständlichkeit, die keiner Werbestrategie entsprungen ist, sondern einer tief verspürten Überzeugung, dass Tourismus nachhaltig und sozial kompatibel sein muss. Was wiederum eine sichere Strategie ist, um als Hotel in Erinnerung zu bleiben, in das man unbedingt zurückkehren möchte – und wir möchten unbedingt!