Für Komplexität Raum schaffen möchte er, kündete Ralph Rugoff, Kurator der Biennale 2019 und Direktor der Londoner Hayward Gallery, an der Pressekonferenz mit einem Lächeln an. Mit Fragmenten und Fake News via Twitter & Co würden wir schon genügend zugeschüttet. Unter dem ambivalenten Motto «May You Live In Interesting Times» (aber ohne kuratorisches Thema) überschwemmt diese Biennale natürlich trotzdem mit Themen, denen wir auch sonst ausgesetzt sind. «Interesting Times» ist ja der englische Euphemismus für Krisenzeiten, und so gibt es Bezüge zu Klimawandel, Mauern, Migranten, Obdachlosigkeit, digitale Technologien und AI zuhauf. Das hat seinen Grund: Rugoff hat sich entschieden, ausschliesslich lebende Künstler zu zeigen. Die Reibung mit den Realitäten der Gegenwart ist somit programmiert.
Die Künstler bieten dazu mal mit subtiler Imaginationskraft, mal mit haudegenhafter Plakativität Hand. Im Herzen der Giardini entführt uns Laure Provost im französischen Pavillon in einen imaginären Meeresgrund mit Tieren aus Murano-Glas, kaputten Mobiltelefonen und Plastic-Flaschen; im Dunkel, das der Bauch eines Oktopus sein soll (!), läuft dann ein surrealer Roadmovie, der von der Reise einer zusammengewürfelten Gruppe von Musikern und Zauberern von den Pariser Banlieues bis nach Venedig handelt. Er lotet Fragen nach Identität und ihrer Grenzen und Fluidität aus, handelt aber vor allem von Eskapismus.
In den Pavillons finden sich zuweilen richtig dystopisch anmutende Environments, mal subtilere Anklagen, aber auch ein paar Hoffnungsschimmer oder gar Widerstandsbekundungen. Der deutsche und der britische Pavillon giessen die Tristesse der politischen Lage Europas in ästhetische Form: Cathy Wilkes, die Britin, legt Objekte und extraterrestrisch wirkende Figuren aus, die Müdigkeit und leise Morbidität ausstrahlen, während Natascha Süder Happelmann (das aus Autokorrektur und fehlerhafter Beamtensprache zusammengesetztes Pseudonym der iranischen Kunstprofessorin Natascha Sadr Haghighian) den deutschen Pavillon mit einer deckenhohen Mauer aus Spritzbeton und gestapelten Gemüsekisten bestückt hat, um die «Festung Europa» zu versinnbildlichen. Etwas abseits des Biennale-Geländes, im litauischen Pavillon, rücken derweil Opernsänger und Schauspieler in einem Strandsetting der Konsum- und Klimaproblematik zu Leib. (Die Darbietung, eine der Überraschungen der Biennale, gewann den Goldenen Löwen.)
Im Schweizer Pavillon wird, in einer Filminstallation von Renate Lorenz und Pauline Boudry, gegen den politischen und gesellschaftlichen Backlash, der sich heute in Mauern und Abgrenzung manifestiert, angetanzt. Die widerständige Attitüde des Beitrags löst sich allerdings in Harmlosigkeit auf. Eine unverblümte Anklage hält hingegen Roman Stańczak im polnischen Pavillon bereit. In minutiöser Handarbeit hat er einen Privatjet von innen nach aussen gestülpt. Die Flügel nach innen gefaltet, die elektronischen Verdrahtungen nach aussen hängend ist der Jet, Statussymbol der Reichen und Mächtigen, geschunden, gehäutet und erlegt wie ein gejagtes Tier.
Im Arsenale, der stillgelegten Flottenbasis der ehemaligen Republik Venedig, versammeln sich Werke, die von den Kosten der Urbanisierung in Entwicklungsländern, von Migration und von Rassismus, Turbokapitalismus und dem Aufbrechen von Geschlechterstereotypen erzählen. Darunter ist «Barca Nostra» von Christoph Büchel der programmierte Aufreger. Der Basler Künstler hat den rostigen, kaputten tunesischen Fischerkutter, der 2015 zwischen Libyen und Lampedusa auf Grund gesunken war und zwischen 700 und 1100 Migranten in den Tod riss, von Sizilien in die Schiffswerft transportieren lassen. Er soll Mahnmal sein, doch vis-à-vis schlürfen Biennale-Besucher unbeirrt ihren Illy-Kaffee.
Im Innern des Arsenale schreitet man die Mammutschau unter den Augen der Südafrikanerin Zanele Muholi ab: Um welche Ecke man auch biegt, starren uns ihre Augen von den zu riesigen Tapeten vergrösserten Selbstporträts an und signalisieren weibliches Empowerment. Der kuratierte zentrale Pavillon, der dieselben Künstler, nur vor anderer Kulisse zeigt, nimmt sich dagegen nur noch wie ein Echo der Arsenale aus. Alles in allem ist eine Biennale, die gut daran tut, auf ein aufgestülptes kuratorisches Super-Narrativ zu verzichten, und den «interessanten» Zeiten, in denen wir leben, trotzdem einen Spiegel vorhält.
Biennale Arte 2019. «May You Live In Interesting Times». Bis 24.11.
https://www.labiennale.org/en/art/2019
Kunstsommer in Venedig: 10 weitere Ausstellungen, die Sie besuchen sollten.
_The Nature of Arp. Peggy Guggenheim Collection. Bis 2.9.
_Baselitz. Accademia. Bis 8.9.
_Förg in Venice. Palazzo Contarini Polignac. Bis 23.8.
_Ashile Gorky, Ca’ Pesaro. Bis 22.9.
_Jannis Kounellis, Fondazione Prada. Bis 24.11.
_Philippe Parreno. Espace Louis Vuitton. Bis 24.11.
_Luc Tuymans. Palazzo Grassi. Bis 26.1.2020.
_Dysfunctional, Carpenter’s Workshop Gallery. Galleria Giorgio Franchetti. Ca’ D’Oro. Bis 24.11.
_Glassstress 2019. Fondazione Berengo Art Pace, Murano.
_ The Spark is You: Parasol Unit mit Kunst aus Iran. Conservatorio di Musica. Bis 23.11.