Kunst und Migration

Palermo: Manifesta 12

Das Motto der Manifesta 12 ist von den Schriften des französischen Botanikers und Gartenphilosophen Gilles Clément inspiriert. Dieser sieht unsere Erde als grossen Garten, zu dem wir alle Sorge tragen müssen. Der Botanische Garten Palermos wurde 1795 eröffnet und gehört europaweit zu den schönsten Exemplaren seiner Art. Acht Künstler bespielen diese Anlage während der Manifesta mit ortspezifischen Installationen.

Der südafrikanische Künstler Lungiswa Gqunta liest den Garten als einen vielschichtigen und widersprüchlichen Raum. Die Erde ist für ihn nicht nur der Ort, wo wir unsere Nahrung  anbauen, sondern auch eine Art Kanal, durch den wir mit unseren Vorfahren kommunizieren. Die entzündbare grüne Flüssigkeit steht für die kommende Revolution.

«The Drowned World» von Michael Wang (USA) besteht aus zwei Teilen, die beide an die organischen Wurzeln der Industrialisierung erinnern möchten. In den industriellen Ruinen wächst heute eine Vegetation, die jener des Karbonzeitalters gleicht. Die 300 Millionen alte Kohle gelangt heute durch die ihre Verbrennung wieder in die Luft. In industriellen Brachen sind auch primitive Lebensformen wie Bakterien oder Algen zu finden. Die Installation möchte unseren Blick für solche Prozesse schärfen.

Die Arbeiten im Orto Botanico und im Palazzo Butera sind unter dem Motto «Garden of Flows» zusammengefasst. Der Garten ist ein Ort, in dem Natur und Kultur eine Einheit bilden. Er ist auch eine Metapher für stetige Veränderung.  Früher wurden importierte Pflanzen aus dem Orto Botanico in die Gärten der Aristokraten gebracht. Palazzo Butera wurde 2016 von privaten Käufern erworben und wird jetzt restauriert.

Die brasilianische Künstlerin Maria Thereza Alves fand auf einem Markt in Palermo Keramikfliesen mit Darstellungen von brasilianischen Papageien, die in der Gegend als dekorative Motive häufig sind. Sie fand auch heraus, dass die sizilianische Küche von aus der Fremde importierten Früchten und Gemüsen geprägt ist. Ihre Fliesenwand zeigt, wie Fremdes assimiliert werden kann.

Das amerikanische Duo «Fallen Fruit» schafft mit «Theatre of the Sun» ein weiteres anschauliches Kunstwerk zum Thema Pflanzen und Migration.

Es besteht aus einer bunten Tapete und einer Karte, auf der die verschiedenen Obstbäume Palermos zu finden sind. «Public Fruit Map» ist Teil des globalen «Endless Orchard» Projekts.

Die vierteilige Installation «Tutto» der italienischen Architektin Matilde Cassani befindet sich an einer wichtigen Kreuzung Palermos. Sie interpretiert die vier Stadtheiligen Santa Lucia, Santa Rosalia, San Antonio und San Francesco neu, indem sie diese mit neuen Attributen versieht. Diese sind von der grossen tamilischen, katholischen Gemeinde Palermos entlehnt. 

Mehrmals täglich werden aus vier Kanonen farbige Papierschnipsel in die Luft geschleudert und gehen in einem bunten Regen auf die Zuschauer nieder. Eine wunderbare Arbeit, die komplexe kulturelle und polische Realitäten versinnbildlicht.

Das italienische Künstlerduo MASBEDO hat einen alten Kleintransporter in eine Videostation verwandelt. «Videomobile» untersucht anhand alter Filmdrehorte die Geschichte des palermitanischen Territoriums. Der Wagen wird zum mobilen Laboratorium. Im «Archivio di Stato» ist eine weitere Installation des Duos zu sehen. Diese ist schon nur der Location wegen einen Besuch wert.

Der Palazzo Ajutamicristo aus dem 15. Jahrhundert befindet sich im Kalsa Quartier. Er wurde im Verlauf der Jahrhunderte mehrmals erweitert. Während der Manifesta werden dort verschiedene Arbeiten gezeigt, die sich dem Thema der länderübergreifenden Netzwerke widmen («Out of Control Room»).

Die kubanische Künstlerin Tania Bruguera beleuchtet ein brisantes, politisches Thema. Unweit des sizilianischen Städtchens Niscemi hat die US Marine einen Teil eines neuen Satellitenkommunikationssystems installiert. MUOS (Mobile User Objective System) operieren als globale Datenüberträger, von denen aus Kriege geführt werden können. Im Jahr 2013 gab es in Sizilien Proteste gegen den Bau des Satelliten, was vorübergehend zu einem Baustop führte. Die Station ging 2016 in Betrieb. Die Künstlerin dokumentiert den bis heute andauernden Kampf der Aktivisten und sprengt so die Grenze zwischen Kunst und Alltag.

Ein Besuch vor Ort zeigt die Vielfalt und Lebendigkeit Palermos. Einer Stadt, in der Kultur und Alltag schon immer symbiotisch koexistierten.

Nach Zürich nun Palermo: Grösser könnte der Kontrast nicht sein. Die 12. Ausgabe der nomadischen Kunstbiennale Manifesta findet dieses Jahr in der sizilianischen Hauptstadt statt. Eine gute Gelegenheit, diese geschichtsträchtige, in Verruf geratene Stadt zu erkunden. «The Planetary Garden. Cultivating Coexistence» lautet das Motto dieser Ausgabe. In Sachen Koexistenz hat Palermo in der Tat einige Erfahrung. Ihre Geschichte ist geprägt durch Fremdbestimmung und kulturelle Durchmischung. Auch heute ist Sizilien als südlichste Destination Europas für viele Flüchtende die erste Station. «Wir haben hier keine Immigranten», sagte Bürgermeister Leoluca Orlando an der Eröffnung, «jeder Mensch, der in Palermo ist, wird automatisch Palermitaner». Er sieht seine Stadt nicht nur als Kulturhauptstadt Italiens, sondern auch als Hauptstadt der Menschenrechte. Palermo dient aber nicht nur als Bühne für Kunst: Im Vorfeld der Manifesta wurde das holländische Architekturbüro OMA mit einer Studie beauftragt. Daraus ist «Palermo Atlas» entstanden. Die vier Mediatoren der Manifesta 12 nehmen die Stadt als Basis für eine Interaktion und gegenseitige Befruchtung zwischen Kunstschaffenden und lokaler Bevölkerung. Ein Besuch vor Ort zeigt die Vielfalt und Lebendigkeit Palermos. Einer Stadt, in der Kultur und Alltag schon immer symbiotisch koexistierten. Unbedingt zu empfehlen sind der Besuch des Orto Botanico und des Palazzo Butera. Im Zentrum (Quattro Canti) sollte man sich zudem die Installation von Matilde Cassani ansehen. Und danach ein Gelato von Costa geniessen (gleich schräg gegenüber).

Die 12. Ausgabe der Kunstbiennale Manifesta findet bis zum 4. November 2018 in Palermo statt.

Der geschichtsträchtige Palazzo Costantino in Palermo aus dem späten 18. Jahrhundert dient ebenfalls als Kulisse für die Manifesta 12.