Marie Schumann hat keinen fixen Arbeitsplatz, sie ist gleichsam eine migrierende Textilkünstlerin, was zum Faden als ihrem Hauptwerkstoff passt. Textilien entstehen durch Bewegung. Einen Atelierplatz in Zürich teilt sie mit anderen Kreativen in der Zentralwäscherei. Regelmässig fährt sie ins appenzellische Bühler zu Tisca. Seit 2017 kann sie dort Webmaschinen benutzen, um ihre textilen Einzelstücke herzustellen. Die alten Maschinen funktionieren noch mit einem Lochsystem, sie sind quasi Vorläufer der heutigen Computer. Die Maschinen, an denen Schumann arbeitet, sind aber computergesteuert. Basismaterial für ihre Wand- und Raumbilder findet sie auch im Garnlager der Firma, doch die eigentliche Arbeit beginnt bei der Recherche. Die Ursprünge und die kulturelle Bedeutung von Textilien faszinieren die Künstlerin seit Längerem. In die Schweiz kam sie für ihr Masterstudium in Textildesign an der Hochschule Luzern. Der Weg zur Textilkunst entstand intuitiv und entwickelt sich kontinuierlich weiter. In den letzten Jahren konnte sie ihr Wissen auch in Residenzen vertiefen.
Wie kamst du zum Thema Textilien?
Marie Schumann: In einem Buch der Textilkünstlerin Anni Albers habe ich mal gelesen, dass es relativ zufällig ist, wie wir zu dem kommen, was wir machen. Weben ist ein Kommunikationskanal, der mir entspricht. Als ich in Neuseeland auf der Schule war, habe ich erstmals die Werkstätten einer Kunsthochschule gesehen. Das war für mich ein Schlüsselmoment. Zunächst habe ich aber Textildesign im Hamburg studiert. Mich interessiert wie ich die Linie einer Zeichnung ins Textile übertragen kann. Das geht auch stark ins Thema Raum. Ich habe mir im Bereich des Textilen eine Nische gesucht.
Du beschäftigst dich auch mit der Geschichte von Textilkunst, etwa mit der Arbeit der Künstlerin Elsi Giauque. Was fasziniert dich daran?
MS: Ich kannte Giauque schon aus meiner Ausbildungszeit und habe erst später herausgefunden, dass sie Schweizerin war. Sie nutzte Gewebe auf eine sehr künstlerische Art und Weise. Wie viele Textilkünstlerinnen ihrer Zeit war auch sie, um zu überleben, auf die Arbeit in der Industrie und in der Lehre angewiesen. Für mich sind diese Künstlerinnen Bildhauerinnen, sie nutzen einfach ein anderes Material. Und ihre Teppiche sind häufig wie Malereien. Die Trennung von angewandter und freier Kunst finde ich überflüssig.
Deine «Soft Spaces» schaffen eine Brücke zwischen Textilem, Raum und Architektur. Wie kam es dazu?
MS: Das Material Stoff an sich hat keine eigene Tragstruktur, wird aber immer dreidimensional eingesetzt, sei es beim Körper oder bei Räumen. Deswegen lag es für mich nahe, auf den Raum einzugehen und mit ihm zu spielen. Textilien sind Schwellenobjekte, auch im Prozess der Entstehung. Bei den Lochkarten etwa wird eine visuelle Information in Material übersetzt.
«Das Textile ist für mich ein raumbildendes Element, es kann einiges in einem Raum verändern.»
Du hast auch schon mit Architekturbüros zusammengearbeitet. Welche Projekte sind im Bereich Architektur entstanden?
MS: Eine künstlerische Auseinandersetzung ergab sich mit dem Architekten Joseph Redpath, deren Resultate wir in der Ausstellung «Softness: Artefacts» präsentierten. Und für eine Wettbewerbseingabe von Caruso St. John konnte ich ein Fassadenkleid gestalten. Im Moment arbeite ich an einem Kunst-am-Bau-Wettbewerb und an einem Hotelprojekt in Zürich.
Was meinst du zum aktuellen Trend zu mehr Textilien, der sich auch in der Architektur zeigt?
MS: Es ist spannend zu sehen, wie sich das gewandelt hat. Ganz früher waren Textilien sehr opulent, dann kam eine Phase, wo das Ornamentale wieder verpönt war. Bei den Materialien Glas und Beton, die heute häufig in der Architektur verwendet werden, fehlt die körperliche Dimension, denn man kann mit diesen Materialien nicht in eine Beziehung treten. Das Textile ist für mich ein raumbildendes Element, es kann einiges in einem Raum verändern.
Wo siehst du für Textilien weiteres Potenzial weg vom blossen Designobjekt?
MS: Wenn man textile Arbeiten nur untereinander ausstellt, ist das künstlerische Potenzial schwieriger zu erkennen. In der Kombination mit anderen Medien kommt das eher zum Tragen. Letztes Jahr konnte ich in Leipzig meine Arbeiten zusammen mit Malerei zeigen. Mich interessiert diese Offenheit. Ich finde es aber schwierig, die eigene Arbeit eindeutig in einem Feld zu verorten.
Wo findest du Inspiration? Was sind typische Kreationsprozesse?
MS: Ich schaue gerne andere Kunst an. Und ich lese viel, zu ganz unterschiedlichen Themen. Beim Lesen kommen viele Bilder auf. Bei der Umsetzung füttere ich die Maschine mit dem Material, und es ist noch nicht klar, was passiert. Die Maschine und ich interagieren miteinander, es ist eine Arbeit im Prozess, zu der auch Scheitern gehört. Meine technische Erfahrung gründet auch auf dem Wissen, das ich mir im Studium erarbeitet habe.
Wie hast du deine Residenzen erlebt?
MS: Ich muss jeweils komplett aufmachen, denn dort sind meine normalen Arbeitsprozesse nicht verfügbar. Ich lasse mich stark auf den Ort ein und verarbeite meine Erfahrungen. In Venedig etwa bin ich mit einer «Uncinetto»-Gruppe zusammengekommen und habe dadurch die lokale weibliche Textilkultur kennengelernt, die mehr ist als nur ein wenig häkeln. In Taiwan habe ich über die Arbeit mit Textilien die Sprachbarriere überwinden können. Das Textile ist eben eine Weltsprache.
Was würdest du gerne realisieren?
MS: In grösseren Dimensionen zu denken, finde ich spannend, weil ich dann ganzheitlicher arbeiten kann. Der Grenzbereich zwischen aussen und innen interessiert mich.