Im Detail liegt die Schönheit

Weihnachtsschmuck aus Glas

Eine fertige runde Glaskugel.

Früher schmückten die Menschen ihre Tannenbäume mit Äpfeln. Infolge eines kalten Frühjahrs blieb die Ernte aus; aus der Not heraus blies man Glaskugeln.

Atemwolken steigen in die kühle Luft, eine 300 Meter lange Menschenschlange harrt geduldig in der winterlichen Kälte aus, um eine der begehrten Glaskugeln in den Händen zu halten, die vor Weihnachten im 600-Seelen-Ort Meisenthal angeboten werden. «Was wäre Weihnachten ohne einen Weihnachtsbaum, und was wäre es, ohne die dazugehörigen Kugeln zum Schmücken?», erklärt eine warm vermummte Dame aus Colmar.

Ein flüssiges Stück Glas wird in eine Form gepresst.

Rund 1150 Grad lassen das Glas wie flüssigen Honig schmelzen. Vorsichtig giesst Thomas es in eine Stahlform, ...

Ein Tannenzapfen aus Glas.

... ein fragiler Tannenzapfen entsteht.

Meisenthal in den Nordvogesen – ein kleiner Ort, geprägt von geschwungenen, waldigen Hügeln, Fachwerkhäusern mit trutzigen Fensterläden, Weinranken vor den Eingängen und ausladenden Gestellen für Störche auf den Dächern. Der winterliche Besuch dieses kleinen Mekkas der Weihnachtskugel gehört für die meisten zum Fest wie Lebkuchen und Glühwein. Mit Spannung wird hier die Vorstellung der neuen Glaskugel des Jahres erwartet. Denn auf Einladung des Centre International d’Art ­Verrier, des Internationalen Glaskunstzentrums, entwerfen Künstler*innen neue, zeitgenössische Modelle. Rund 35 000 Besucher pilgern regelmässig im Advent in den Vogesenort, um mitzuerleben, wie dort die «Boules de Noël» vorgestellt werden. «In jeder Familie gab es früher einen Glasbläser», erzählt Nathalie Nierengarten. Sie öffnet die Tür zur Glasbläserei. Eine ­Hitzewelle schlägt den Besucher*innen entgegen, drei Öfen wärmen den Raum auf Sauna-Niveau. Nathalie Nierengarten ist die künstlerische Leiterin des Internationalen Glaszentrums. 2018 entwarf die studierte Grafikerin ihre erste gläserne Weihnachts­kugel. «Es war eine grosse Ehre, dazu ausgewählt zu werden», erzählt die Französin. Ihr Modell «Arti» wurde zu einem der gefragten Sammelobjekte und wird immer noch produziert. «Rund 70 000 Weihnachtskugeln verkaufen wir ­jedes Jahr, davon fallen allein 35 000 Stück auf  die Jahreskugeln.»

Thomas steht am Schmelzofen, hält seinen Stab hinein und tropft das Glas erst in die Form, wenn es flüssig genug ist.

Der Glasbläserstab ist aus Edelstahl und besitzt ein Mundstück wie ein Musikinstrument. Dort pustet Thomas hinein, und ein Glastropfen wandelt sich zur Kugel.

Glasbläser Jean-Marc und sein Sohn Thomas versehen den berühmten Meisenthaler Zapfen aus Glas mit einem Aufhänger.

Konzentrierte Handwerkskunst

Während die mit Gas betriebenen Öfen ­zischen, dreht Glasbläser Jean-Marc einen langen Stahlstab, an dessen Ende eine dicke Schicht Glas wie Stockbrot gewickelt ist. Er schiebt ihn in den Schmelzofen. Rund 1150 Grad lassen das Glas wie flüssigen Honig schmelzen. Vorsichtig giesst er es in eine Stahlform, ein fragiler Tannenzapfen entsteht. Ein Tropfen an der Oberseite wird mit einer zierlichen Zange zu einem kleinen Aufhänger geformt. Ein Vorgang, der in zwei Sätzen erzählt ist, aber rund eine halbe Stunde hochkonzentriertes Arbeiten erfordert. Fehler sind keine Option, sie enden schmerzhaft. Wie neulich, als ein Stab abgelegt wurde und einer der jungen Nachwuchs-Glasbläser ihn an der falschen Seite anfasste. Ohne Handschuhe versteht sich. «Ein typischer Anfängerfehler», konstatiert Jean-Marc, «einer der schlimmeren Art, die selten passieren.» Seinem Sohn Thomas hat er von dem Beruf abgeraten. Das schien diesen eher zu befeuern. Thomas steht am Schmelzofen, hält seinen Stab hinein und geht mit ihm zu einer Bank, als das Glas ihm weich genug erscheint. Der Stab ist aus Edelstahl und besitzt ein Mundstück wie ein ­Instrument. Dort pustet er hinein, und ein Glastropfen wird eine Kugel. Später wird sie in den Abkühlofen wandern. «Würde man sie bei Raumtemperatur liegen lassen, wäre sie binnen Minuten in tausend Teile zersprungen», erklärt er. Nachwuchssorgen zeichnen sich bei den Glasbläser*innen im Meisenthal noch nicht ab. Junge Leute schwirren durch die Ateliers, einige tragen Sonnen­brillen, um besser in das Feuer schauen zu können. Doch von den jährlich rund 15 Auszubildenden bleiben nur zwei tatsächlich im ­Beruf – den anderen ist er zu hart.

Eine fertige runde Glaskugel.

Modell «Arti» wurde zu einem der gefragtesten Sammelobjekte und wird immer noch produziert.

Geburtsregion der Weihnachtskugel

Schon in früherer Zeit waren die Nordvogesen von Glashütten geprägt. Die Geschichte erzählt, dass auf den sandigen Böden Ende des 15. Jahrhunderts nicht nur die ersten Werke in Goetzenbruck, Münzthal-St. Louis und Soucht entstanden, sondern auch die Weihnachtskugel aus Glas erfunden wurde. Und das kam so: Früher schmückten die Menschen ihre Tannenbäume mit rotbackigen Äpfeln. Infolge eines besonders kalten Frühjahrs blieb die Ernte aus, und aus der Not heraus blies man Glaskugeln für den Weihnachtsbaum. In Meisenthal nahm ab 1701 die industrielle Glasfertigung Fahrt auf. Um 1794 war die Glasbläserei hier fest mit dem Namen Emile Gallé verbunden. Der  französische Kunsthandwerker, der den ­Jugendstil in Frankreich prägte, liess in ­Meisenthal produzieren und bescherte der Glashütte damit internationalen Ruf. 1969 musste die Hütte mangels Rentabilität ­schliessen. Sechs Jahre später taten sich einige Handwerker zusammen und gründeten ein Glasmuseum. Das entdeckte die Hochschule der Künste aus Saarbrücken und setzte ab 1992 Workshops mit internationalen Designern wie Borek Sipek, Jasper Morrison oder Enzo Mari und Studenten um. Das ­Internationale Glaskunstzentrum, Centre ­International d’Art Verrier, wurde aus der Taufe gehoben. Dass Meisenthal heute weltweit als Herzstück der Glaskunst wahrgenommen wird, ist auch Yann Grienenberger, dem Direktor des Glaszentrums, zu verdanken. Bei seinem Antritt vor 20 Jahren wurden 50 Weihnachtskugeln im Jahr verkauft, heute sind es 70 000. Schnell war ihm klar, dass Meisenthal ein neues Zentrum brauchte, seine Geschichte stark genug sei, um Besucher*innen herzuführen. 

 

Eine Frau sitzt am Schreibtisch und zeichnet etwas auf.

Nathalie Nierengarten ist die künstlerische Leiterin des Internationalen Glaszentrums. 2018 entwarf die studierte Grafikerin ihre erste, gläserne Weihnachtskugel. 

In einem Raum steht eine Treppe.

Zum Internationalen Glaskunstzentrum gehört auch der viel besuchte Museumsshop mit Café.

Ein Mann steht an einer Wand gelehnt.

Dass Meisenthal heute weltweit als Herzstück der Glaskunst wahrgenommen wird, ist auch Yann Grienenberger, dem Direktor des Glaszentrums, zu verdanken.

Eine Ansicht von oben auf eine Fabrik.

Das New Yorker Büro SO–IL in Kooperation mit dem Pariser Büro Freaks wurde beauftragt, die Erweiterung rund um die alte Fabrik durchzuführen.

«Zu unserer Passion passte keine Massenproduktion», sagt er, «wir wollten die Manufaktur in den Vordergrund stellen». Es war Zeit, einen neuen Ort in den alten Mauern ent­stehen zu lassen. Grienenberger warb in der Region dafür, in den Bestandsgebäuden der alten Fabrik ein neues Museum zu planen. Im Auftrag der Kommunen des Bitscher Landes wurde das New Yorker Büro SO–IL in Kooperation mit dem Pariser Büro Freaks beauftragt, die Erweiterung rund um die alte Fabrik durchzuführen. So entstand eine ­dynamische Welle aus Beton, die heute die Ortsmitte von Meisenthal prägt und vier verschiedene Gebäude und Epochen verbindet. Rund 6500 Quadratmeter umfasst der Neubau, unter dessen Dächern das Musée du ­Verre et du Cristal und das Centre International d’Art Verrier vereint wird. Über die gegossene Betonfläche, die die Architekten als Referenz an flüssiges Glas verstehen, werden die unterschiedlichen Höhenniveaus des Ensembles ausgeglichen. Das benachbarte Bestandsgebäude wurde ebenfalls erweitert und dient heute als Kulturzentrum und Konzerthalle.

Inzwischen ist es später Nachmittag, die Menschenschlange vor dem Gebäude hat sich aufgelöst. 2000 Kugeln sind an diesem Wintertag verkauft worden. «Es ist nicht so, dass man hier nur mit einer Weihnachtskugel weggeht», erklärt ein Besucher, «man trägt eine Geschichte mit nach Hause.»

 

www.ciav-meisenthal.fr

Über einem Ausgang steht  «L`histoire continue».

Auf Einladung des Centre International d’Art Verrier, des internationalen Glaskunstzentrums, entwerfen Künstler*innen jährlich neue, zeitgenössische Modelle.