Sie gehören für mich zum Engadin wie der Piz Nair, der Silsersee oder das Schloss Tarasp – die mit Sgraffito gestalteten Gebäude, die in vielen Dörfern mal zurückhaltender, mal auffälliger verziert zu finden sind. Ich folge Paulines ausgestrecktem Finger, der die Linien zweier turmartiger Fortsätze aus gestaffelten Dreiecken nachzeichnet, eine sich himmelwärts erweiternde weisse Fenstereinfassung. «Ein typisches Beispiel für ein gotisches Motiv, nur handelt es sich hierbei um eine Neuinterpretation.» Ein Werk von Giuliano Pedretti, wie Pauline vermutet, und demnach neuerer Herkunft als das Gebäude selbst, auf dem eine Tafel daran erinnert, dass es 1406 erbaut und 1988 zuletzt renoviert worden ist.
Ob grafisch oder mit gelben Kanarienvögeln – das Sgraffito erzählt die Geschichten der Häuser und seiner Bewohner:innen
«Giuliano Pedrettis Sgraffiti sind elegant, teilweise sehr grafisch. Er hat einen eigenen Stil kreiert und das Sgraffito weiterentwickelt», erklärt Pauline, die bereits mit der nächsten Fassade lockt. Wir sind in Celerina unterwegs; Art-Direktorin und Grafikdesignerin Pauline Martinet ist für heute meine künstlerische Wissenskrücke – und tatsächlich erwachen durch ihre Hinweise und Anekdoten die Symbole vor meinen Augen plötzlich zu Leben und offenbaren in ihrer Rhythmik, Dynamik und Repetition zumindest einige ihrer Geheimnisse.
Die nächste Hausfassade zeigt akkurate Linien, die real nicht existierende Fenstergesimse und Fenstergiebel definieren, was dem Haus architektonische Finesse und Eleganz verleiht. «Das ist die Kunst der Illusion. Sgraffito kann eine Art Trompe-l’œil sein, dank dem ein Bauernhaus wie ein Palazzo wirkt.» Hier bricht jedoch ein gelber Kanarienvogel, der auf einem der Fenstergiebel sitzt und sein fröhliches Lied trällert, das scheinbar Korrekte auf und verleiht ihm Schalk und Leichtigkeit. Sgraffito kann der architektonischen Gestaltung dienen oder Schmuck sein mit dem alleinigen Zweck, die Fassade zu verschönern.
«Bei der Deutung von Sgraffito gilt es zu bedenken, dass es verschiedene Wahrheiten geben kann.» Pauline Martinet, Buchautorin.
Es erzählt aber auch die Geschichte eines Hauses, die seiner Bewohner:innen und gibt Informationen eines Ortes und einer bestimmten Zeit preis. So erzählt der gelbe Vogel davon, wie ein Mann hier viele Jahre lang ein und aus gegangen ist, stets mit seinem Kanarienvogel auf der Schulter. Die Motive spielen eine bedeutende Rolle bei den Sgraffiti, bei ihrer Deutung sollte man aber bedenken, dass es stets mehrere Wahrheiten geben kann.
«Das Interpretieren der Motive ist für mich ein wenig so zu sehen, wie in einem Kunstgeschichtsbuch über Caravaggios Kunst zu lesen: Man erhält viel Wissen, aber am Ende weiss nur Caravaggio selbst, was genau er sagen wollte.» Vielleicht ist Paulines Buch «Sgrafits» deshalb auch kein Fachwerk über die Sgraffito-Technik geworden, sondern eine fotografische Wiedergabe der Recherchearbeit und der Entdeckungen während ihrer Streifzüge durch mehr als 28 Dörfer.
Ohne Kalk, kein Sgraffito
Pauline steht nun vor einer Fassade, auf der die Merkmale der Technik besonders gut ablesbar sind. Aus der tiefer liegenden, hervorgekratzten Feinputzschicht heben sich die hellen Muster hervor. «Manchmal ist die gesamte Hausfassade mit Kalkputz versehen, manchmal nur Teile davon.» Aber: Kein Sgraffito ohne Kalk. Dass ein handwerklich hergestellter Putz mit Kalkstein, der langsam gebrannt wird, vier- bis fünfmal stärker als ein Industriekalkputz ist, erfahre ich später von Joannes Wetzel. Gemeinsam mit der Architektin Delphine Schmid hat der gelernte Maurer, der sich auf Kalkoberflächen spezialisiert hat, den Verein Kalkwerk gegründet. In Workshops (die Daten für Frühling/Sommer sind bereits online) lernen Interessierte bei ihnen, Kalksteine zu brennen, Kalkputz herzustellen, die Grundlagen des Sgraffito-Handwerks. Während dieses in Ländern wie Argentinien, Spanien oder Mexiko noch aktiv ausgeübt wird, beschränkt sich diese Fassadenkunst in der Schweiz oft nur noch auf den Erhalt und die Pflege oder die Interpretation bestehender Sgraffiti.
Jungen Künstler:innen fehlt es an bespielbaren Fassaden
Jungen Künstler:innen, die eine neue Sprache innerhalb der traditionellen Handwerkskunst suchen, fehlt es laut Joannes Wetzel an bespielbaren Fassaden – zu präsent sind «ganzheitliche» Produkte der Industrie und Bauherrschaften und Planer:innen fehlt es an Wissen und Zeit, um mit Kalkputz zu arbeiten. Dabei muss ein Sgraffito sehr schnell eingearbeitet werden, bevor der Putz austrocknet. Und «sgraffiare», italienisch für «kratzen», können eigentlich alle, die sich künstlerisch begabt wähnen – wenn die Leinwand, also der Putz, vorbereitet wird. Sogar ein Kind, wie das Beispiel der 12-jährigen Annamaria zeigt, die in Zusammenarbeit mit Constant Könz die Fassade ihres Familienhauses verschönert hat und damit ein eindrückliches Beispiel dafür lieferte, dass Sgraffito nicht nur kunstvoller Zeuge oder die Wiederaufbereitung einer vergangenen Zeit sein muss, sondern vor allem ein Kunsthandwerk ist, das berührt und zum Staunen anregt.