Er war ein Mann mit grossen Plänen: Elemér Zalotay entwarf 1961, kurz nach Abschluss seines Architekturstudiums, für einen Vorort von Budapest ein «Streifenhaus», ein ebenso revolutionäres wie weitsichtiges Projekt. 3 Kilometer lang, 30 Stockwerke hoch sollte das Hochhaus 70'000 Menschen beherbergen, im Kampf gegen die prekären Wohnverhältnisse im Land des «Gulaschkommunismus».
Eine einzige Stadt in einem Haus, mit Theater, Kino, Bibliothek, Kinderkrippe, Schule und Restaurants. Jede der 20’000 Wohneinheiten sollten Ausblick auf die grüne Landschaft haben, versprach der ungarische Ingenieur und Architekt. Dahinter stand sein Verständnis des Bauens als sozialer Akt: Angemessener Wohnraum sollte für alle bezahlbar sein. Vorfabrizierte Wohnungen in Leichtbauweise, so stellte er sich vor, sollten ab Fabrik als Ganzes zur Baustelle geliefert werden. Zalotay beschäftigte sich in seinem radikalen Entwurf mit Themen, wie sie heute nicht aktueller sein könnten: So schwebte ihm ein senkrechter Pflanzenvorhang vor den Fenstern vor – ein vertikaler Wald, wie ihn Stefano Boeri in Mailand über ein halbes Jahrhundert später realisieren sollte. Das ingeniöse Projekt sorgte für Aufsehen, eine britische Architekturzeitschrift übertitelte einen Artikel zu Zalotays Wohnmaschine mit «Corb plus» – eine logische Erweiterung von Le Corbusiers Unité d’Habitation.
Doch die Umstände waren für solche Visionen ungünstig. Während Zalotay andere aufsehenerregende Beton-brut-Gebäude im Westen Ungarns wie das Sputnik-Observatorium in Szombathely baute und in Planungsbüros arbeitete, gab er den Traum von der Wohnmaschine nie auf. Bei den Parteifunktionären in Ungnade gefallen, emigrierte er 1973 in die Schweiz, in der Hoffnung auf bessere Bedingungen für seine Arbeit. In Ziegelried/Schüpfen baute sich Zalotay sein Experimentalhaus, mit dem er den Beweis antreten wollte, dass seine Ideen Realität werden könnten.
Er entwickelte dafür ein eigenes Bausystem, das er sich patentieren liess – ein Rahmen aus Holz, der mit Drähten stabil verspannt wurde. Dieses System propagierte er auch zum Selbstausbau im Bausatz für die künftigen Mieter seiner späteren Hochhausprojekte. Bis kurz vor seinem Tod 2020 arbeitete er an seinem Haus, eine schräggestellte Glasfassade, Blech, Stahlseile, Holzbauteile, Steine und Recyclingmaterial formten sich über die Jahre zu einem Gesamtkunstwerk, das nicht allen gefiel. «Elemér Zalotay verband in seiner Person Pragmatismus und Utopie», erklärt Tibor Joanelley.
Der Architekturkritiker hat zusammen mit Monika Annen die erste Ausstellung zum Werk des ungarisch-schweizerischen Architekten ausserhalb Ungarns realisiert. In der Zürcher Galerie «Baltsprojects» geben die Kuratoren noch bis 15. Mai Einblick in ein schillerndes Werk, in dem sich Ordnung und Chaos berühren. Versammelt sind Skizzen, Pläne, Zeitungsberichte und Briefverkehr, aber auch bricolage-artige Möbelskulpturen.
«Die Radikalität seines Denkens scheiterte an der Realität», sagt Joanelly. Ausser in Ziegelried blieben die Entwürfe des Aussenseiters mit grossem Sendungsbewusstsein Papier. Und so kann man in der Schau auf den späten Zeichnungen, die Wimmelbildern gleichen, die Bauanleitungen für eine bessere Welt erkunden – bis ins letzte Detail konstruiert und durchdacht. Befeuert von seiner Utopie schwang sich Zalotay zu immer gewagteren Konstruktionen auf, zuletzt mit einem Entwurf, der selbst Frank Lloyd Wrights The Illinois One Mile Skyscraper mit 4000 Metern um mehr als das Doppelte überragt hätte.
Galerie BALTSprojects
Die Ausstellung läuft bis zum 15. Mai 2021
Öffnungszeiten:
Donnerstag, 14:00 – 18:00 Uhr
Samstag, 13:00 – 17:00 Uhr
oder nach Vereinbarung
www.baltsprojects.com