Noch bis vor wenigen Jahren war Wedding ein typischer Berliner Arbeiterkiez. Mit Eckkneipe, türkischen Supermärkten und kroatischen Restaurants aus den Siebzigern – ein Ort der ganz normalen Leute. Wenig spektakulär, aber mit dem riesigen, baumbestandenen Naherholungsgebiet Rehberge, Altbauten aus der Jahrhundertwende und architektonischen Perlen der Moderne. Auch in Wedding findet man, was so typisch ist für Berlin: Eine Gegend kann von einem Strassenzug auf den anderen ihr Gesicht plötzlich komplett ändern. Von hässlich zu schön und umgekehrt. So ist es auch entlang der Müllerstras-se, der Hauptschlagader des Bezirks. Hier ballen sich unwirtliche Gebäude aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, Imbissbuden aus aller Herren Länder, 1-Euro-Shops, Supermarktketten, Eisdielen. Und neuerdings poppt dazwischen ein Vintage Store, Coffeeshop oder Bioladen auf, streckt sich zwischen vernachlässigten Häusern eine coole Betonfassade mit gläsernen Fensterbändern hervor. Oder stehen Berliner Hipster Schlange vor dem Restaurant Julius, das hinter einer unscheinbaren Schaufensterscheibe deutsche Küche mit japanischem Einschlag serviert und während des Lockdowns kostspieligen Filterkaffee, Brioches und selbst gemachte Marmelade to go verkaufte.
«Wenn ich
die Wohnungstür hinter mir
schliesse, kann
ich durchatmen.»
Wohnen in den Zwanzigern
Wie eigentlich überall in der Stadt ist auch in Wedding die Gentrifizierung in vollem Gange. Immer mehr Menschen, auch von ausserhalb, entdecken den noch immer rauen Reiz des Bezirks und hoffen auf authentische Erlebnisse und vor allem auf bezahlbaren Wohnraum. Vor acht Jahren ist Christoph Kümmecke nach Wedding gezogen, genauer gesagt in das Englische Viertel – eine Grosssiedlung, die 1927 und 1928 nach Plänen des Architekten Erich Glas entstanden ist. Man kann sagen, dass Kümmecke ein ziemlicher Glückspilz ist, denn er hat die Genossenschaftswohnung über eine ganz normale Immobilienanzeige im Internet gefunden, ganz ohne Beziehungen und Warteschlangen.
Zu einer bezahlbaren Miete und noch dazu in saniertem Zustand – mit abgezogenen Dielenböden, frisch lackierten Kastenfenstern und einem neuen Badezimmer. Noch schnell die Raufasertapete heruntergerissen, die Wände gespachtelt, Türen ausgehängt und eine Küchenzeile gekauft – und seine vorherige Wohnung in der verkehrsumtosten
Müllerstrasse gehörte der Vergangenheit an.
Seit sieben Jahren schon fühlt sich der 42-Jährige heimisch im Englischen Viertel. Entlang mehrerer Strassenzüge stehen die Mehrparteienhäuser aus dunklem Backstein, die auf den ersten Blick unspektakulär, beinahe monoton wirken. Bei näherem Betrachten entdeckt man jedoch liebevolle Details: Hauseingänge mit geometrischen Backsteindekoren, Tierskulpturen, die die Fassaden schmücken und mit Blumen bepflanzte Loggien. «Ich mag die authentische Mischung in Wedding, das Unaufgeregte, das Multikulturelle», sagt Kümmecke.
«Ich mag die authentische Mischung in Wedding,
das Unaufgeregte, das Multikulturelle.»
Schau ins Grün
Die Wohnung liegt im ersten Stock eines Hauses an der Ecke Edinburger-/Liverpooler Strasse. Wo vor fünf Jahren noch der Lärm von der Einflugschneise des inzwischen stillgelegten Flughafens Tegel herüberhallte, herrscht nun himmlische Ruhe mit Vogelgezwitscher und Baumrauschen. Von allen Fenstern aus geht der Blick ins Grüne:
auf den gegenüberliegenden historischen Friedhof, den angrenzenden Schillerpark und in die Baumkronen – Häuser sind erstaunlicherweise keine zu sehen. Christoph Kümmecke liebt diesen Ausblick und auch das Licht – man wähnt sich auf dem Land und keinesfalls in der brodelnden Grossstadt, die doch nur wenige Schritte entfernt ist.
Als er die Tür öffnet, stehen wir im Flur, der einladend und behaglich gestaltet ist. Das Fahrrad eines japanischen Labels hängt an der Wand, ein originaler Tisch von Alvar Aalto – ein Schnäppchen von Ebay-Kleinanzeigen – dient als dekorativer Eyecatcher, ein hängendes Sideboard von Montana versteckt die Dinge des Alltags, denn der Hausherr mag es minimalistisch und aufgeräumt.
Christoph Kümmecke liebt den Ausblick ins Grüne und auch das Licht – man wähnt sich auf dem Land und keinesfalls in der brodelnden Grossstadt Berlin.
Monochromes Universum
«Ich bin ein sehr visueller Mensch», erzählt Kümmecke. Er hat schon immer gern auf Flohmärkten gestöbert, nach und nach entdeckte er Labels wie Artek, Please Wait To Be Seated, New Tendency und Util, von denen die meisten seiner Möbel, Leuchten und Accessoires stammen. Die Dreizimmerwohnung ist 67 Quadratmeter gross und ziemlich praktisch aufgeteilt, was typisch ist für die Siedlungsarchitektur der Zwanzigerjahre. Der Flur dient als Verteilerraum, von dem sämtliche Räume abgehen. Das kleinste
Zimmer hat Kümmecke als Gästezimmer eingerichtet, hier stehen ein massgefertigtes Bett und ein grosser Kleiderschrank, schräg gegenüber liegt das Badezimmer.
Im Wohnzimmer verbringt der Projekt- und Kommunikationsmanager bei PSLab Lighting Design am meisten Zeit, es ist behaglich mit einem Vintage-Sofa von Cor und einem Loungesessel eingerichtet. Wie die gesamte Wohnung ist auch das Schlafzimmer in zurückhaltenden Farbtönen gehalten. Kümmecke liebt das Miteinander von Materialien, die haptische Qualitäten haben: Möbel und Leuchten aus Holz, Travertin und Stahl, Textilien aus Baumwolle und Leinen. Dazu gesellen sich Einzelstücke wie Gemälde und Souvenirs, die farblich auch mal aus der Reihe tanzen dürfen. «Ich richte meine Wohnung sehr intuitiv ein», sagt Kümmecke, der sich auch beruflich mit Interior- und Produktdesign beschäftigt und für Labels wie Montana, Urbanara und Nutsandwoods gearbeitet hat. «Wenn ich die Wohnungstür hinter mir schliesse, kann ich durchatmen.» Er hört dann nur noch das Rauschen der Bäume und das Vogelgezwitscher und erinnert sich an seine Kindheit im Sauerland.
Mehr von Christoph und seiner Wohnung: www.instagram.com/ckuemmecke/