Wanna be in Wedding

Ein Foto eines Esstisches welcher eine schwarze Tischplatte besitzt. Ihn umgeben vier Stühle, die unterschiedlich sind.

Im Wohnzimmer steht der grössere der beiden Esstische: ein rechteckiges Modell des Berliner Architekturbüros Plan4. Dazu gruppieren sich Stühle von Jean Prouvé (Vitra) und Vintage-Exemplare von Charles und Ray Eames für Herman Miller.

Noch bis vor wenigen Jahren war Wedding ein typischer Berliner Arbeiterkiez. Mit Eckkneipe, türkischen Supermärkten und kroatischen Restaurants aus den Siebzigern – ein Ort der ganz normalen Leute. Wenig spektakulär, aber mit dem riesigen, baumbestandenen Naherholungsgebiet Rehberge, Altbauten aus der Jahrhundertwende und architektonischen Perlen der Moderne. Auch in Wedding findet man, was so typisch ist für Berlin: Eine Gegend kann von einem Strassenzug auf den anderen ihr Gesicht plötzlich komplett ändern. Von hässlich zu schön und umgekehrt. So ist es auch entlang der Müllerstras-se, der Hauptschlagader des Bezirks. Hier ballen sich unwirtliche Gebäude aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, Imbissbuden aus aller Herren Länder, 1-Euro-Shops, Supermarktketten, Eisdielen. Und neuerdings poppt dazwischen ein Vintage Store, Coffeeshop oder Bioladen auf, streckt sich zwischen vernachlässigten Häusern eine coole Betonfassade mit gläsernen Fensterbändern hervor. Oder stehen Berliner Hipster Schlange vor dem Restaurant Julius, das hinter einer unscheinbaren Schaufensterscheibe deutsche Küche mit japanischem Einschlag serviert und während des Lockdowns kostspieligen Filterkaffee, Brioches und selbst gemachte Marmelade to go verkaufte. 

 

Ein Foto einer Kommode aux

Das Fünfzigerjahre-Sideboard der Deutschen Werkstätten Hellerau ist ein Geschenk seines verstorbenen Vaters. Schön ist der Kontrast mit einem Beistelltisch aus feuerverzinktem Stahl,
den Kümmecke von Freunden bekommen hat.

«Wenn ich
die Wohnungstür hinter mir
schliesse, kann
ich durchatmen.»

Ein Foto eines Wohnzimmer welches mit grauem Sofa, einem Tischchen und einem grauen Sessel ausgestattet ist.

Im grossen Wohnraum gesellt sich das Vintage-Sofa «Conseta» von Cor zu einem Loungesessel von Herbert Hirche aus den Fünfzigerjahren (Richard Lampert).

Wohnen in den Zwanzigern

 

Wie eigentlich überall in der Stadt ist auch in Wedding die Gentrifizierung in vollem Gange. Immer mehr Menschen, auch von ausserhalb, entdecken den noch immer rauen Reiz des Bezirks und hoffen auf authentische Erlebnisse und vor allem auf bezahlbaren Wohnraum. Vor acht Jahren ist Christoph Kümmecke nach Wedding gezogen, genauer gesagt in das Englische Viertel – eine Grosssiedlung, die 1927 und 1928 nach Plänen des Architekten Erich Glas entstanden ist. Man kann sagen, dass Kümmecke ein ziemlicher Glückspilz ist, denn er hat die Genossenschaftswohnung über eine ganz normale Immobilienanzeige im Internet gefunden, ganz ohne Beziehungen und Warteschlangen.
Zu einer bezahlbaren Miete und noch dazu in saniertem Zustand – mit abgezogenen Dielenböden, frisch lackierten Kastenfenstern und einem neuen Badezimmer. Noch schnell die Raufasertapete heruntergerissen, die Wände gespachtelt, Türen ausgehängt und eine Küchenzeile gekauft – und seine vorherige Wohnung in der verkehrsumtosten
Müllerstrasse gehörte der Vergangenheit an. 

Seit sieben Jahren schon fühlt sich der 42-Jährige heimisch im Englischen Viertel. Entlang mehrerer Strassenzüge stehen die Mehrparteienhäuser aus dunklem Backstein, die auf den ersten Blick unspektakulär, beinahe monoton wirken. Bei näherem Betrachten entdeckt man jedoch liebevolle Details: Hauseingänge mit geometrischen Backsteindekoren, Tierskulpturen, die die Fassaden schmücken und mit Blumen bepflanzte Loggien. «Ich mag die authentische Mischung in Wedding, das Unaufgeregte, das Multikulturelle», sagt Kümmecke.

Ein Foto eines kleinen schwarzen, runden Tisch der von drei Stühlen umgeben ist und in der Küche steht.

Kümmecke hat eine Vorliebe für die Möbel und Leuchten des finnischen Architekten Alvar Aalto, wie man in der Küche sieht. Die Stücke spiegeln seine Idee vom guten Wohnen wider. Der Jute-Teppich «Salaya» von Urbanara bringt Wärme ins Interior.

Ein Foto der Küchenablage welche grau ist. Auf ihr sind Schneidebretter und eine weisse Teekanne vorhanden.

Die Küchenzeile von Alno ist mit den grifflosen Fronten sehr schlicht gehalten und kommt ohne Oberschränke aus. Kümmecke mag es aufgeräumt, wie sein Arrangement von Wasserkocher, Brettchen und Utensilien zeigt.

Ein Foto des Balkons auf welchem eine Pflanze und ein grüner Hocker zu finden sind.

Auf der schattigen Loggia stehen Outdoor-Möbel der Brüder Bouroullec für Hay, der Vintage-Trolley aus Stahl stammt vom Flohmarkt.

Eine Nahaufnahme des Coffee-tables. Er steht auf einem Wissen Teppich.

Die architektonische Strenge des Sofas und des Sessels wird aufgelockert durch einen Beistelltisch aus Travertin und einen runden Holzhocker von Charlotte Perriand (Cassina).

«Ich mag die authentische Mischung in Wedding,
das Unaufgeregte, das Multikulturelle.»

Schau ins Grün

 

Die Wohnung liegt im ersten Stock eines Hauses an der Ecke Edinburger-/Liverpooler Strasse. Wo vor fünf Jahren noch der Lärm von der Einflugschneise des inzwischen stillgelegten Flughafens Tegel herüberhallte, herrscht nun himmlische Ruhe mit Vogelgezwitscher und Baumrauschen. Von allen Fenstern aus geht der Blick ins Grüne:
auf den gegenüberliegenden historischen Friedhof, den angrenzenden Schillerpark und in die Baumkronen – Häuser sind erstaunlicherweise keine zu sehen. Christoph Kümmecke liebt diesen Ausblick und auch das Licht – man wähnt sich auf dem Land und keinesfalls in der brodelnden Grossstadt, die doch nur wenige Schritte entfernt ist. 

Als er die Tür öffnet, stehen wir im Flur, der einladend und behaglich gestaltet ist. Das Fahrrad eines japanischen Labels hängt an der Wand, ein originaler Tisch von Alvar Aalto – ein Schnäppchen von Ebay-Kleinanzeigen – dient als dekorativer Eyecatcher, ein hängendes Sideboard von Montana versteckt die Dinge des Alltags, denn der Hausherr mag es minimalistisch und aufgeräumt.

Ein Foto eines Ausschnittes des Schlafzimmers. Man sieht das Bett ein wenig, über welchem zwei eingerahmte Bilder stehen.

Die Wand hinter dem Bett ist mit dem Farbton «Joa’s White» von Farrow & Ball gestrichen. Das Gemälde mit den stilisierten Blättern stammt von Dóra Földes und harmoniert mit dem Schwarz der Wandleuchte «Golden Bell» von Alvar Aalto, die von Artek hergestellt wird. 

Dieses Foto präsentiert der restliche Teil des Schlafzimmers. Das Schlafzimmer öffnet sich zum Balkon.

Nichts sei schöner, als bei geöffneter Balkontür und sich im Wind bauschenden Gardinen aufzuwachen, sagt der studierte Medien- und Kommunikationswissenschaftler.

Christoph Kümmecke liebt den Ausblick ins Grüne und auch das Licht – man wähnt sich auf dem Land und keinesfalls in der brodelnden Grossstadt Berlin.

Ein Foto einer Garderobe, die von der Marke Vitra stammt und ein Sideboard auf welchem verschiedene Objekte stehen.

Der 42-jährige Wahlberliner kann sich nicht sattsehen an den Schattenspielen auf dem Boden und an den Wänden. (Garderobe von Vitra, Sideboard von Nutsandwoods)

Monochromes Universum

 

«Ich bin ein sehr visueller Mensch», erzählt Kümmecke. Er hat schon immer gern auf Flohmärkten gestöbert, nach und nach entdeckte er Labels wie Artek, Please Wait To Be Seated, New Tendency und Util, von denen die meisten seiner Möbel, Leuchten und Accessoires stammen. Die Dreizimmerwohnung ist 67 Quadratmeter gross und ziemlich praktisch aufgeteilt, was typisch ist für die Siedlungsarchitektur der Zwanzigerjahre. Der Flur dient als Verteilerraum, von dem sämtliche Räume abgehen. Das kleinste
Zimmer hat Kümmecke als Gästezimmer eingerichtet, hier stehen ein massgefertigtes Bett und ein grosser Kleiderschrank, schräg gegenüber liegt das Badezimmer. 

Im Wohnzimmer verbringt der Projekt- und Kommunikationsmanager bei PSLab Lighting Design am meisten Zeit, es ist behaglich mit einem Vintage-Sofa von Cor und einem Loungesessel eingerichtet. Wie die gesamte Wohnung ist auch das Schlafzimmer in zurückhaltenden Farbtönen gehalten. ­Kümmecke liebt das Miteinander von Materialien, die haptische Qualitäten haben: Möbel und Leuchten aus Holz, Travertin und Stahl, Textilien aus Baumwolle und Leinen. Dazu gesellen sich Einzelstücke wie Gemälde und Souvenirs, die farblich auch mal aus der Reihe tanzen dürfen. «Ich richte meine Wohnung sehr intuitiv ein», sagt Kümmecke, der sich auch beruflich mit Interior- und Produktdesign beschäftigt und für Labels wie Montana, Urbanara und Nutsandwoods gearbeitet hat. «Wenn ich die Wohnungstür hinter mir schliesse, kann ich durchatmen.» Er hört dann nur noch das Rauschen der Bäume und das Vogelgezwitscher und erinnert sich an seine Kindheit im Sauerland.

 

Mehr von Christoph und seiner Wohnung: www.instagram.com/ckuemmecke/

Ein Stadtvelo, welches an der Wand angemacht wurde.

Jedes der drei Zimmer sowie Küche und Bad zweigen vom Flur ab. Stauraum bietet ein Hängeschrank des dänischen Herstellers Montana (nicht im Bild), während das Tokyo Bike auf die nächste Erkundungstour wartet.

Titelbild des Magazin das Ideale Heim.

 

Weitere Artikel lesen Sie in der Ausgabe 10 / 2023 der Zeitschrift das Ideale Heim.