Die Entwürfe des am 8. November 1951 in Ferrara geboren Italieners wie etwa die ikonische Tolomeo-Leuchte von Artemide haben sich in das kollektive visuelle Gedächtnis eingebrannt. Als Mitbegründer zweier bedeutender Designbewegungen des 20. Jahrhunderts – Alchimia und Memphis – hat er Geschichte geschrieben. Als wir Michele De Lucchi in seinem Mailänder Studio zum Interview treffen, möchte er jedoch lieber über die Zukunft seines Büros sprechen als über die Vergangenheit. Mit seinem Söhnen Pico und Arturo hat die nächste Generation Einzug gehalten in den multidisziplinären Kreis von Kreativen, als den De Lucchi das Studio AMDL Circle heute begreift.
Was bedeutet Ihnen der 8. November 2021? Wie werden Sie Ihren 70. Geburtstag feiern?
MD: Es wird eine kleine Feier hier im Büro geben, mit den Kollegen und Freunden. Im Anschluss werde ich mit meiner Frau Sybille und meinen vier Kindern nach Südtirol fahren, wo wir Freunde treffen wollen. Wir werden nicht groß feiern – ich mag keine opulenten Partys – aber ich liebe das persönliche Zusammentreffen mit Familie und Freunden, gemeinsames Essen und ausgedehnte Gespräche, Meinungs- und Gedankenaustausch. Das alles war wegen der Pandemie so lange nicht möglich, und es hat mir gefehlt.
Das soziale Miteinander, heute und in der Zukunft, ist Ihnen offensichtlich ein wichtiges Anliegen – und auch zentrales Thema ihres ganz neu erschienenen Buches „Earth Stations – Future Sharing Architectures“ (Michele De Lucchi & AMDL Circle, SilvanaEditoriale, 2021).
MD: In „Earth Stations – Future Sharing Architectures“ geht es um eine neue Typologie von Gebäuden, die durch die Berücksichtigung von humanistischem und technologischem Wissen unser Leben verbessern kann – im Einklang mit Natur und Gesellschaft. Als Architekt habe ich verstanden, dass wir viel mehr über die Bedeutung von Gebäuden für unsere Gesellschaft nachdenken müssen. Ich versuche meinen Studenten und Mitarbeitern klarzumachen, dass wir nicht nur Architektur gestalten können, sondern auch das Verhalten der Menschen, die sie nutzen. Was bringt uns etwa nachhaltige Architektur, wenn wir sie nicht nachhaltig nutzen? Und warum werden Wände nach wie vor in erster Linie dazu eingesetzt, um Menschen und Funktionen zu trennen, statt sie sinnvoll zu verbinden? Wenn wir Räume gestalten, die mehrere Funktionen bündeln, schaffen wir Räume, in denen Menschen auch zufällig zusammentreffen. Diese Art von unerwarteten Begegnungen ist meiner Meinung nach die Basis für Kreativität: Aus unerwarteten Begegnungen entstehen wichtige neue Impulse. Mit ist es zum Beispiel ein Anliegen, die Mitarbeiter meines Teams persönlich im Büro zu treffen, statt nur noch über Zoom und Telefon zu kommunizieren.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag heute aus? Sind Sie nach wie vor jeden Tag hier in Mailand im Büro, oder verbringen Sie mehr Zeit in ihrem Zuhause am Lago Maggiore?
MD: Ich pendele tatsächlich an drei oder vier Tagen in der Woche zwischen unserem Haus am See und dem Büro in der Mailänder Innenstadt, wo ich auch einen kleinen Raum zum Rückzug oder für ein Nickerchen habe. Grundsätzlich zeichnen den Arbeitsalltag eines Architekten meiner Meinung nach zwei Aspekte aus: Die Arbeit alleine und die Arbeit im Team. Er wird nie in der Lage sein jemand anderen (etwa den Kunden) zufrieden zu stellen, wenn er nicht in der Lage ist, seinen eigenen Ansprüchen zu genügen. Das ist der Grund, warum ich mich nach wie vor damit herausfordere, künstlerisch zu arbeiten. Der Künstler muss einzig und alleine seine eigene Idee von einem Kunstwerk erfüllen. Ein Designer dagegen muss sowohl den Wunsch seines Auftraggebers als auch dessen Kunden befriedigen. Und ein Architekt hat darüber hinaus auch noch eine gesellschaftliche Verantwortung: Ein Gebäude, das er entwirft, muss nicht nur seinem Auftraggeber genügen, sondern auch der öffentlichen Wahrnehmung. Ihm kommt somit eine große Verantwortung zu.
Ob als Künstler, Designer oder Architekt – man hat den Eindruck, Sie denken mit dem Zeichenstift. Überall im Studio liegen oder hängen Handskizzen von Ihnen auf Papier. Was bedeutet Ihnen das Zeichnen?
MD: Ja, tatsächlich zeichne ich sehr viel mit Bleistift und trage immer ein Bündel Papier bei mir. Ich skizziere oft auch nebenbei, in Gesprächen oder Meetings, ohne mir bewusst zu sein, was ich da grade zu Papier bringe. Ich lasse meine Hand einfach machen und bin erstaunt, was da rauskommt (lacht). So entsteht manche Initialzündung für einen Stuhl, einen Tisch – oder ein Gebäude. Gemeinsam mit meinem Team entscheide ich, welche Idee es verdient, weiterentwickelt zu werden. Eine Mitarbeiterin hier im Büro archiviert alle Skizzen. Seit das Centre Pompidou Teile unseres Archivs übernommen hat, pflegen wir es noch mehr als vorher.
Wie definieren Sie Ihre Rolle innerhalb von AMDL Circle – sehen Sie sich eher als Autorendesigner oder als Teil des Kollektivs?
MD: Das ist eine gute Frage, die mich aktuell sehr beschäftigt: Genau zwischen diesen beiden Polen versuche ich meine Rolle neu zu definieren. Einige unserer Kunden fragen explizit nach etwas, das ich gestaltet habe, andere ziehen die Zusammenarbeit mit einem Team aus vielen Fachleuten unterschiedlichster Disziplinen vor. In Italien versteht man die Rolle des Designers klassischerweise als Autorendesigner. Um den heutigen Anforderungen an Gestaltung und insbesondere an Architektur zu entsprechen, verstehen wir AMDL Circle als das Zentrum einer gleichgesinnten Gruppe von Entdeckern. Mit jedem neuen Projekt möchten wir unseren Kreis erweitern – um Künstler, Anthropologen, Humanisten, Psychologen, Zukunftsforscher und alle, die zur Weiterentwicklung unserer Projekte beitragen. Gemeinsam haben wir die Verantwortung, Architektur zu gestalten, die unsere Lebensqualität verbessert.