Eine digitale Bühne für Produktneuheiten

Global Design Agenda: Interview mit Tobias Lutz

Das Jahr 2020 hat die Möbel- und Designbranche unwiderruflich verändert. Das Wegfallen der Messen brachte eine rasante Beschleunigung der Digitalisierung mit sich. In diesem Zusammenhang entstand auch die Global Design Agenda von Architonic. Tobias Lutz, Gründer von Architonic, erklärt im Interview, wie es zu dieser Innovation kam und was sie für die Branche bedeutet.

Porträt Tobias Lutz

Tobias Lutz, Gründer und Managing Director von Architonic.

Aufgrund der Corona-Pandemie sind seit Anfang 2020 alle Möbel- und Designmessen abgesagt. Was bedeutete dies aus Deiner Perspektive für die Branche?
Tobias Lutz:
Die Pandemie ging wie ein Erdbeben durch die Branche, weil die wegfallenden Messen die Produktentwicklung und Kommunikation der Branchen bisher massgeblich strukturiert hatten. Sie waren zentral für die Planung und setzten einen Rhythmus und Fokus für die Hersteller, der auf einmal fehlte.

Was waren die Vorteile, vielleicht aber auch die Nachteile von Messen?
TL:
Auch auf persönlicher Ebene schufen die Messen Struktur. Man hat einfach eine Woche im Kalender blockiert, ging aus dem Büro raus und in eine andere Stadt. Das brachte Abwechslung und Fokus. Ein schöner Vorteil war zudem die soziale Komponente: Die Messen waren ein Ort des Austauschs und des Kennenlernens. Ausserdem hat man an Messen beim Durchschlendern Dinge entdeckt und Menschen getroffen, die man nicht gesucht hat. Diesen Discovery-Effekt gibt es natürlich online auch, indem man ungezielt surft oder scrollt, aber die Qualität der Beziehung, die entsteht, ist nicht dieselbe wie bei einem persönlichen Treffen.

Was die Nachteile betrifft: Für die gezielte Recherche waren Messen eigentlich schon lange ungeeignet. Früher ging der Fachhändler auf eine Messe und hat sich die Neuheiten angeschaut, um herauszufinden, was er ins Sortiment aufnimmt. Hierfür orientierte er sich an Marken, nach denen man auf einer Messe gut «navigieren» kann. Wenn ich als Planer jedoch nach einem spezifischen Produkttypus oder Material suchte, erforderte dies oft langes Herumirren zwischen Ständen, die nicht thematisch sortiert waren. Die Search-Funktion lässt sich im Digitalen einfach viel besser umsetzen. Auch die örtliche sowie zeitliche Beschränkung der Messen war ein Nachteil. Die ganze Branche musste zu einer bestimmten Zeit an einen Ort fliegen – das ist einerseits nicht nachhaltig und beschränkte zudem die Reichweite der Messen. Wer nicht vor Ort sein konnte, der wurde nicht erreicht. Die Messen sind also auch als Marketingtool eher beschränkt, und trotzdem floss ca. 40% des Marketingbudgets in Messeauftritte.

 

Die Pandemie ging wie ein Erdbeben durch die Branche, weil die wegfallenden Messen die Produktentwicklung und Kommunikation der Branchen massgeblich strukturiert hatten. 

Wie meistern die Hersteller die Umstellung auf digitale Plattformen? Gibt es Innovationen, die Dir besonders aufgefallen sind?
TL:
Für uns als digitale Messe war das natürlich ein enormer Wachstumsschub. Die grösste Herausforderung für Hersteller war sicherlich das Platzieren von Neuheiten, deshalb setzte die Innovation vor allem bei der Lancierung neuer Produkte an. Einige Unternehmen führten Hausmessen in ihren Produktionsstätten oder Showrooms im kleinen Rahmen durch, andere veranstalteten Onlineschulungen oder Webinare. Zudem gab es teils sensationelle Filmproduktionen, wobei Neuheiten in ganze Kinofilme eingebunden wurden. Das Medium der Stunde ist sicher der Film, er bietet am meisten Ähnlichkeiten zum Live-Erlebnis. Die Reichweite kommt dann über digitale Medien und Social Media zustande.

Was fehlt im digitalen Raum im Vergleich zum physischen Raum?
TL:
Sicher fehlte bei Onlinepräsentationen oft der Dialog. Es braucht eben auch diese Gleichzeitigkeit – die ganze Branche setzt sich zur gleichen Zeit mit den gleichen Neuheiten auseinander – damit dieser überhaupt entsteht. Aber online fehlen uns noch die Tools, um einen solchen Dialog überzeugend umzusetzen. Andererseits fehlt natürlich ganz klar der Point of Touch. Man kann die Qualität, die Oberfläche eines Möbels nicht in Person erleben. Vor allem bei Sitzmöbeln ist dies ein grosses Problem – der Stuhl muss ja auch zum Menschen passen, und den kann man digital nicht probesitzen – zumindest noch nicht.

Timeline der Global Design Agenda mit Themenwochen und Daten in weiss auf dunkelblauem Hintergrund

Die Global Design Agenda bietet mit ihren 16 Themenwochen eine Struktur für die digitale Lancierung von Produktneuheiten.

Was hat Dich inspiriert, die Global Design Agenda zu lancieren?
TL:
Wir haben viele Gespräche mit der Industrie geführt und immer wieder dieselbe Rückmeldung erhalten: Es fehlte plötzlich der Rhythmus und das Momentum, welches die Messen erzeugten. Es fehlte eine Bühne, wo Neuigkeiten platziert werden konnten. Die Messen richteten die Aufmerksamkeit der Branche zu gewissen Zeitpunkten auf gewisse Themen – zum Beispiel das Thema Bad oder Licht. Deshalb entschlossen wir uns, mit der Global Design Agenda ein digitales Pendant zum Messefahrplan zu schaffen und den Firmen so eine digitale Bühne für Produktlancierungen zu bieten. Wir führen digital diverse Design-Weeks zu unterschiedlichen Themen durch und geben dem Designgeschehen so wieder eine Struktur. Sie beziehen sich bewusst auf den Rhythmus der bisherigen Leitmessen und binden diese ein, sobald und sofern sie wieder stattfinden.

Was ist die Global Design Agenda genau? Wie muss man sich diese Plattform vorstellen?
TL:
Die Global Design Agenda ist vollintegriert in den Kontext von architonic.com. Unter «Global Design Agenda» findet man eine Übersicht aller Design-Weeks, die bereits stattgefunden haben. Darin erscheinen drei verschiedene Art von Inhalten. Zum einen gibt es hochwertige Videointerviews mit Experten und Stars aus der Branche, die Fachwissen vermitteln. Dann gibt es Produktneuheiten aus der Industrie, die von uns redaktionell aufbereitet worden sind. Das ist quasi das Pendant zum Messestand. Nicht zuletzt gibt es «Client Generated Content» – hier kann die Industrie ihre Neuheiten kostenlos selber platzieren. Auch diese Inhalte sind kuratiert, stammen aber oft von Jungdesignern oder noch unbekannteren Marken, wodurch ein spannender Mix entsteht.

Auf architonic.com findet man die Global Design Agenda unter «News».

Auf der Übersichtsseite einer Design-Week sind alle Inhalte – von Experteninterviews bis zu Produktneuheiten – zu finden.

Produktneuheiten werden entweder von Architonic redaktionell aufbereitet…

…oder können auch direkt vom User hochgeladen werden. Beide Kategorien sind von Architonic kuratiert.

Auf welchen Plattformen finden diese Design-Weeks statt? Welches Publikum erreicht ihr damit?
TL:
Unsere virtuelle Bühne ist auf drei Portale verteilt: archdaily.com ist die grösste Datenbank für kuratierte Architekturprojekte, architonic.com die grösste kuratierte Plattform für Designprodukte und designboom.com ist die zweitgrösste Inspirations- und Informationsplattform im Bereich Design. Während Architonic und Archdaily eher B2B orientiert sind, ist die Aufteilung bei Designboom ca. fifty-fifty. Mit diesen drei globalen Plattformen erreichen wir zusammengerechnet unglaubliche Zahlen: 2.5 Billionen Page Views pro Jahr, 123 Millionen Besucher pro Jahr, 17 Millionen Social-Media-Follower und 1.2 Millionen Newsletterabonnenten. Das ist ein klarer Mehrwert für die Industrie und schafft die Chance, dass die ganze Designwelt zuschaut, wenn eine Design-Week auf diesen drei Plattformen läuft. Auf Anhieb haben wir z.B. mit der Furniture  Design-Week über 5 Mio unserer Community erreicht und daraus 500'000 Besucher generiert.

Weshalb ist das Kuratieren der Inhalte wichtig?
TL:
Einerseits gibt das Kuratieren den Besuchern die Sicherheit, dass sie – ganz egal ob in Person oder digital – keine billigen Duplikate, sondern Qualitätsprodukte vorfinden. Digital läuft man zusätzlich die Gefahr ein, dass Algorithmen die Inhalte eintönig «kuratieren.» Es entsteht eine Echokammer, in der man nichts Neues mehr entdeckt. Deshalb spielen Plattformen und Medien, deren redaktioneller Arbeit Nutzer vertrauen, eine äusserst wichtige Rolle. Ausserdem haben während der Pandemie viele bemerkt, dass einfach mal googeln nicht immer zur Wahrheit führt. Dies bedeutete schon fast ein Revival der klassischen Medien, denn das Vertrauen zur Informationsquelle nimmt wieder an Wichtigkeit zu. Aus diesen Gründen ist das Kuratieren im Netz wichtiger denn je. Darauf hat Architonic von Anfang an grossen Wert gelegt. Bei uns findet man nur Marken, die ein gewisses Niveau an Qualität und Gestaltung erfüllen.

Bühne mit den drei Webseiten Archdaily, Architonic und Designboom

Die virtuelle Bühne der Global Design Agenda besteht aus den drei Plattformen ArchDaily, Architonic und Designboom.

Was macht Deiner Meinung nach guten online Content in der Design- und Möbelbranche aus?
TL:
Das Ziel ist, ein Produkt so erlebbar wie möglich zu machen. Mein Traum ist es, online das Gefühl zu vermitteln, als hätte man ein Produkt am Messestand erlebt – es wurde mir gezeigt, erklärt, vorgeführt, ich konnte interagieren und Fragen stellen. Dazu laufen bei uns Tests und Prototypen. Der nächste Schritt wäre dann sicher, die Orte klug zu verlinken, wo man das Produkt tatsächlich anfassen und ausprobieren kann.

Gibt es noch offene Wünsche an die Global Design Agenda von Herstellerseiten?
TL:
Ja, einerseits erhalten wir immer mehr Anfragen, ob wir nicht selbst in die Videoproduktion einsteigen möchten. Es besteht von Kundenseiten ein Bedürfnis nach Videos, die Architekturschaffende gezielt ansprechen. Da befinden wir uns zurzeit noch in einer Testphase. Andererseits besteht der Wunsch, auch online überzeugende Live-Situationen zu schaffen. Wie können wir das psychologische Momentum des Live-Events auch online erzeugen? Und wie kann digital ein Austausch und Dialog stattfinden? Das ist etwas, das wir noch entwickeln wollen.

Das Vertrauen zur Informationsquelle nimmt wieder an Wichtigkeit zu. Deshalb ist das Kuratieren im Netz wichtiger denn je. 

 

Wie, denkst Du, wird die beschleunigte Digitalisierung, die die Pandemie hervorgerufen hat, die Branche in Zukunft verändern?
TL:
Trotz der unglaublich schnellen Entwicklung im Bereich Digitalisierung, denke ich, dass es auch eine Gegenbewegung geben wird. Sobald wir uns wieder frei bewegen können, werden wir wieder zurück zu physischen Events gehen. Ich glaube, diese werden in Zukunft aber viel lokaler, gezielter und exklusiver sein.

Wo geht die Reise mit der Global Design Agenda hin?
TL:
Wir wollen die Inhalte der Design-Weeks noch stärker in allen drei Portalen vernetzen und aufeinander abstimmen. So soll noch intensiver das Gefühl einer globalen Bühne entstehen. Die Global Design Agenda 2022 ist schon in Planung.

Jetzt die Global Design Agenda 2021 entdecken.

Verwandte Artikel