Aktuell verspüre ich bei jedem Sonnenstrahl die ungezähmte Lust nach Frühling. Wieder mehr Zeit draussen verbringen, den Bäumen und Pflanzen beim Spriessen und Wachsen zusehen und die Lust, Berge zu erklimmen.
Letzteres braucht noch etwas Geduld, da die Berge noch den weissen Deckel aufhaben. Doch widerwillig müssen Menschen, die nicht so gerne weit vorausplanen – so wie ich, es dennoch tun, wenn sie einen gewissen Anspruch an die Berghütten oder Bergtouren haben. Eine dieser Hütten, wo es einer frühen Buchung oder Glück bedarf, ist die Santnerpass-Hütte.
Die Enrosadira bringt den Rosengarten zum Glühen
Die Schutzhütte liegt hoch oben im Herzen des UNESCO Weltnaturerbe der Dolomiten, genauer im Schlern - Rosengarten, noch genauer im Reich von König Laurin, dem Zwergenkönig. Denn genau an diesem Ort steht heute die Santnerpass Hütte. Dort, wo König Laurin, gemäss der Sage, von seinen Rosen verraten und von den Rittern aus den Armen seiner geliebten Similde gerissen wurde. König Laurin belegte daraufhin den Rosengarten mit einem Fluch; niemand sollte mehr die blühenden Rosen sehen, weder in der Nacht noch am Tage. Dabei vergass er die Enrosadira, die Dämmerung. Mit dieser Sage wird das Alpenglühen erklärt: das wunderschöne, teilweise sehr kräftige rote Licht, das zur Dämmerung die Bergspitzen einfärbt.
Man kann sich daran fast nicht sattsehen. Die Aussicht von der Hütte ist spektakulär. Nicht nur wegen der Farben und der Lichtstimmung zu Sonnenaufgang und -untergang stockt einem der Atem, sondern erst diese Weitsicht - obwohl man sich inmitten der Berggipfel befindet. Der Blick schweift vom Latemar auf den Gipfel des Schwarz- und Weisshorns, zum Ortler und, wenn die Sicht es erlaubt, bis zu den österreichischen und Schweizer Alpen.
«The best view comes after the hardest climb.»
So heisst es auf der Instagram-Seite der Santnerpass Hütte. Damit behalten die jungen Betreiber:innen Romina Huber und Michel Perathoner Recht. Auch wenn die Wanderung von der Bergstation Kölner Hütte, zu der man mit der König-Laurin-Sesselbahn gelangt, nur um die 2,5 Stunden via Klettersteig oder etwas über drei Stunden über den Wanderweg in Anspruch nimmt. Ist der Aufstieg steil und konditionell sowie auch schwindeltechnisch anspruchsvoll. Doch wer gerne herausfordernde und abwechslungsreiche Wanderrouten hat, der ist hier Gold richtig.
Wer sich für den Wanderweg entscheidet, hat zudem die Möglichkeit, es gemütlich zu nehmen und bei den Vajolet-, der Preusshütte oder der Gartlhütte eine Pause einzulegen, hausgemachte Leckereien zu schlemmen und das sich wandelnde Panorama zu geniessen.
Vor fast 70 Jahren errichtet
1956 errichtete Bergsteiger und Bergführer Giulio Gabrielli die Schutzhütte und betrieb sie zuerst selbst, bis der Betrieb von seiner Tochter und anschliessend der Enkelin übernommen wurde. Die Hütte schloss 2012 ihre Türen und stand während sieben Jahren leer, bis sie von den heutigen Besitzern Romina und Michel übernommen wurde. Zuerst nahmen die beiden kleine Renovierungsarbeiten vor, stockten die Betten von 12 auf 17 auf und betrieben die Hütte weiter.
Doch im August 2021 begannen sie ihren Traum einer neuen, modernen und grösseren Schutzhütte hoch oben am Santnerpass zu realisieren. Die anspruchsvollen und mühseligen Bauarbeiten dauerten fast zwei Jahre. Jeweils während der Wintermonate von März bis Juni wurde gearbeitet. Über den Sommer hatte die halbe Hütte für Gäste geöffnet und im Spätsommer 2022 begann der Bau der zweiten Hälfte der Hütte, die direkt angebaut wurde.
Es war ein organisatorisch aufwendiger Bau; Material sowie Mitarbeitende konnten nur mit dem Helikopter zur Hütte gebracht werden. Nachdem der Innenausbau der zweiten Hüttenhälfte im Frühjahr 2023 beendet wurde, empfingen Romina und Michel ab dem 10. Juni 2023 in der fertigen Santnerpass Hütte 36 Übernachtungsgäste.
Kinderzeichnung in Space Age
Ausgepowert und mit grossem Durst nach einem genauso grossen Radler, sieht man auf den letzten Metern etwas silbrig Glänzendes, in der kargen Felslandschaft glänzen. Nein, es ist keine Halluzination, sondern das Ziel. Eigentlich verrät auch die Landschaft, dass man die Spitze erreicht hat, weil es nun auf 2.734 m ü. M. zu hoch ist für die saftig grüne Vegetation, durch die wir noch vor einer Stunde schritten. Das silberne Dach wird immer grösser und geht man an der Hauswand entlang, steht man plötzlich auf einer riesigen Sonnenterrasse, die ins Nichts zu ragen scheint.
Die Schutzhütte sieht von aussen ungefähr so aus, wie wenn ein Kind ein Haus malt – ein Dreieck, dessen Dach sich über das Fundament bis zum Boden zieht. Auf der einen Seite lehnt sich die Hütte dem Berg an, auf der anderen Seite ist sie dem Tal entgegen ausgerichtet und eröffnet diesen unglaublichen Weitblick.
Futuristisch wirkt sie, weil sie von einer glänzenden, metallischen Hülle eingefasst ist. Das «Zeltdach», wie es die Senoner & Tammerle Architekten nannten, hat auf beiden Seiten zahlreiche Gaubenfenster, die in regelmässigen Abständen zwei bis drei Fensterreihen bilden. Sowie auf der Talseite, eine Terrasse, die sich über die ganze Länge des Gebäudes zieht und so das «Zeltdach» unterbricht.
Einäugige Katze
Neben der imposanten Architektur und der atemberaubenden Aussicht wird man auf der Terrasse der Santnerpass Hütte von «Knödel» begrüsst, der einäugigen Katze des Gastgeberpaares. Eine Hauskatze mitten in den Dolomiten, da fühlt man sich sofort wie zuhause.
Dieses Gefühl wird noch verstärkt, ehe man die Hütte betritt. Drinnen ist fast alles aus Holz – auf Südtiroler Art. Modern mit klaren Linien und ohne das verstaubte Chichi. Es herrscht ein reges Gewusel, zwischen den ankommenden Gästen, andere die an der Bar einen kleinen Pre-Cena-Snack bestellen und wieder andere die mit der Kamera ausgerüstet nach draussen gehen, um ein noch besseres Bild zu schiessen – wie im Wohnzimmer einer Grossfamilie, wo jeder seinen Interessen nachgeht, und dennoch sind alle irgendwie zusammen.
Wir haben noch kurz Zeit, unser Zimmer zu beziehen, bevor wir ebenfalls wieder für den Sonnenuntergang und ein Glas regionalen Wein nach draussen gehen. Danach geht es rein zum 4-Gang Abendessen. Es werden regionale Speisen mit einem modernen Twist gereicht, dazu Wein aus der Region.
Die tanzenden Schatten der essenden Menschen sind noch einen kurzen Augenblick zu sehen, ehe die Sonne untergeht und durch die lange Fensterfront die dunkle Nacht und die Lichter der Städte unten im Tal zu sehen sind. Im Grossen Saal wird noch geplaudert und gespielt, ehe sich alle in ihre Schlafsäle verziehen, um noch ein paar Stunden zu schlafen, bevor man sich wieder die Wanderschuhe schnürt und den Sonnenaufgang schaut und weitere kitschige Bergfotos schiesst, die fast zu schön sind, um wahr zu sein.