Ob die Hühner, die Bijoy Jain auf seinen Plänen für den Museumsgarten am Boulevard Raspail skizzierte, tatsächlich zwischen den totemartigen Skulpturen gackern werden, wird sich noch zeigen. Bis 2015 jedenfalls hatte der international tätige Gründer des Studios Mumbai seinen Hauptsitz noch auf dem tiefsten Land, fast drei Autostunden von der indischen Metropole entfernt. In Alibag zeigte er, wie er sich seine Vision von Architektur und Leben idealtypisch vorstellt: als eine Synthese von Tradition und Moderne, altem Handwerk, lokalen Materialien und in Harmonie mit Natur und Gemeinschaft.
Der Genius Loci, der Geist des Ortes, steht auch im Zentrum seines neuen Headquarters, mitten in Mumbai. Der Komplex Saat Rasta (2016) befindet sich innerhalb der Mauern eines ehemaligen, stillgelegten Lagerhauses, das er in Ateliers und Wohnungen umwandelte, wo er mit einem kleinen Team von Steinmetzen, Maurern, Zimmerleuten, Möbelschreinern oder Blechschmieden lebt und arbeitet. Der lange, quer verlaufende Innenhof verbindet die Module, die sich zu Atrien öffnen, die Regenwasser und Sonnenlicht hereinlassen. Ein lichtes und durchlässiges Ensemble, in dem Innen und Aussen nahtlos ineinander übergehen. Ein Spiel, das er nun auch auf den modernen Glasbau von Jean Nouvel überträgt. In einen der Hauptsäle setzt er eine Art offenen Dorfpavillon aus geflochtenem Rattan, indem er Möbel, Kunst und Skulpturen in einen magischen Dialog treten lässt, der sich bis nach draussen fortführt. Multidisziplinär lädt er dazu auch verschiedene Künstler aus anderen Ländern ein.
Sinnlicher Erfahrungsraum
Der 1965 in Mumbai geborene Bijoy Jain studierte an der Washington University in St. Louis, USA. Er arbeitete bei Richard Meier in Los Angeles und in London, bevor er 1995 nach Indien zurückkehrte. International bekannt wurde er mit seinen Beiträgen zur Architekturbiennale in Venedig 2010 und 2016 sowie mit seiner Installation im Victoria & Albert Museum in London. In Frankreich arbeitet er gerade an der ökologischen Umgestaltung des Weinguts Château de Beaucastel, die nächstes Jahr vollendet werden soll. Im Tessin unterrichtet er an der Architekturakademie Mendrisio.
«In der Architektur geht es für mich immer darum, auf die Umwelt, die Materialien und die Bewohner Rücksicht zu nehmen. Sie muss alle einbeziehen», sagte Jain einmal. Ein Prinzip, das sich bereits in einem seiner Frühwerke, dem Tara-Haus von 2005, offenbart: Es befindet sich in Kashid am Arabischen Meer, wo der Grundwasserspiegel stark mit den Gezeiten und Jahreszeiten schwankt. Die Lösung von Studio Mumbai bestand darin, ein steinernes, unterirdisches Reservoir zu schaffen, das gross genug ist, um alle Schwankungen aufzufangen: Ein natürlicher Pool und Ort der Ruhe, der gleichzeitig das Mikroklima reguliert. Die Pavillons aus Holz, Stein und Gips sind locker um den Garten herum angeordnet. Sie werden von Galerien umsäumt, deren Holzlamellen das Licht filtern und den Wind durchlassen. So soll auch diese Ausstellung erlebt werden: als sinnlicher Erfahrungsraum und Gesamtkunstwerk, als Ort der Kontemplation – zu beschreiten im ruhigen Rhythmus des Atmens.
Bijoy Jain/Studio Mumbai: «Breath of an Architect», bis 21. April 2024, Fondation Cartier in Paris