40 Architekturikonen in den Alpen

Carte Brute Alpin

Julierturm auf dem Julierpass.

Der rote Julierturm thronte bis Ende August 2023 auf dem Bündner Julierpass.

Mit der neusten Ausgabe von Carte Brute wirft die Zürcher Autorin und Fotografin Karin Bürki ein Spotlight auf die alpine Architekturlandschaft und präsentiert uns ein illustres Potpourri an Bauikonen aus Holz, Stein und Beton. Darunter findet sich nicht nur der ausrangierte Julierturm, sondern auch Wahrzeichen wie das Kunstmuseum Chur oder die Eglise Saint-Nicolas in Hérémence im Kanton Wallis.

Eigentlich mag Karin Bürki ja das Meer, im Interview erzählt sie, wieso es sie dennoch in die Berge zog, welche Trouvaillen sie dort fand und wie es ist, nach jahrelanger, engagierter Arbeit wieder bei 0 anzufangen. 

Bild des St. Gotthard Hospiz bei Sonnenschein.

Das St. Gotthard Hospiz stammt aus dem Jahr 1237 und wurde erst kürzlich vom Architekturbüro Miller & Maranta renoviert.

Aussenaufnahme der Lüftungsanlage des San-Bernhardino-Tunnels.

Die Lüftungsanlage des San-Bernhardino-Tunnels auf 2067 m ü. M.

Ich habe gelesen, dass du ein meerliebhabender Stadtmensch bist. Was hat dich in die Berge gezogen?
Karin Bürki:
Wenn du selbständig bist, in der Kultur unterwegs bist und obendrein noch Nischenthemen bewirtschaftest, ist grundsätzlich alles eine mühsame Bergwanderung. Aber ich habe Glück: Die Schweizer Berge bieten nicht nur atemberaubende Landschaften, sondern auch Schnappatmungs erzeugende Baukunst. Bei meinen Streifzügen durch die Ur-DNA der Schweiz bin ich immer wieder fasziniert, wie selbstverständlich hier urtümliche Natur, Traditionsbewusstsein und Widerstandskraft auf Pioniergeist, kühne Träume und Weltoffenheit treffen. Den eigenen Weg zu gehen, die Suche nach Identität und Herkunft ist oft eine Gratwanderung. Aber es lohnt sich. Die Berge haben mir neue Welten und Themen eröffnet.

Du hast dich dieses Mal auf 40 Architekturikonen aus Holz, Stein und Beton fokussiert. Welches sind die faszinierendsten oder skurrilsten Objekte, die es in die Sammlung geschafft haben?
KB: Es gibt einige Trouvaillen. Zum Beispiel: Das Zelthaus auf der Rigi und das pyramidenförmige Trigonhaus im Wallis. Bei den beiden avantgardistischen Ferienhäusern aus den 1950er-Jahren handelt es sich um absolute, leider ziemlich in Vergessenheit geratene Schweizer Designklassiker. Die Eisgrotte auf dem Rhonegletscher hat wohl ihre letzte Saison erlebt. Richtig ausserirdisch wurde es auf dem San Bernardino Pass, wo ich auf raumschiffartige Objekte stiess. Deren wahre Identität möchte ich an dieser Stelle aber nicht verraten.

Blick auf den Altar der Chiesa di San Giovanni Battista im Tessin.

Die Chiesa di San Giovanni Battista von Mario Botta befindet sich im Bergdorf Mogno im Kanton Tessin.

 

Brutalismus und Alpen passt auf den ersten Blick nicht zusammen. Es gibt bestimmt Objekte, die wie ein Fremdkörper in der Landschaft stehen. Wie wurde dieser Clash von den Einheimischen aufgenommen?
KB: Bei meiner Alpenexpedition geht es stilunabhängig um markante und identitätsbildende Objekte aus ursprünglichen Materialien, die im schroffen Gebirge maximale Wirkung erzielen. Um beim Beton zu bleiben: Die Kirche Saint Nicolas im Walliser Bergdorf Hérémence gilt als das Matterhorn des brutalistischen Kirchenbaus in der Schweiz. Der Widerstand hielt sich aber in engen Grenzen. Das hat viel mit der Staumauer Grande Dixence weiter oben im Tal zu tun. Das gigantische Jahrhundertwerk aus Beton sprudelte reichlich Wasserzins und somit Wohlstand ins Dorf. Das überzeugte auch die Skeptiker. Heute ist der einstige Fremdkörper fester Bestandteil von Hérémence. Die Leute sind stolz auf ihren zerklüfteten «Betonberg» im Dorfzentrum.

Kannst du dir vorstellen, das Projekt auch mal über die Landesgrenzen hinaus zu tragen und vielleicht ein Ausland-Spezial zu machen?
KB: Die Artenvielfalt der zeitgenössischen Schweizer Architekturlandschaft ist einzigartig. Sie hat auch eine grosse internationale Fangemeinde. Mit den Maps möchte ich vor allem jüngere Menschen ansprechen, die das Thema Brutalismus gerade neu für sich entdecken. Aber wie ich, nicht unbedingt aus der Architektur kommen und einen einfachen und diverseren Zugang suchen. Hier gibt es noch viel Awareness-Arbeit zu tun. Andererseits ist HEARTBRUT mehr als Brutalismus. Mich würde es daher eher reizen, das Map-Konzept auf ganz andere, gegenwartsrelevante Themenfelder auszuweiten. Oder das gesammelte Bild- und Textmaterial in einem Buch zu veröffentlichen – oder gleich in zweien.

Die Kapelle Caplutta Sogn Benedetg in Surselva.

Die Kapelle «Caplutta Sogn Benedetg» steht im Weiler Sogn Benedetg oberhalb des Dorfes Sumvitg in der Surselva im Kanton Graubünden und wurde 1989 von Peter Zumthor erbaut.

Die Hütte «Cappana Corno Gries» im Kanton Tessin.

Die Hütte «Cappana Corno Gries» im Kanton Tessin wird auch liebevoll Alpenraumschiff genannt und ist idealer Ausgangsort für Ski- und Schneeschuhtouren.

Hast du ein Lieblingsobjekt in Carte Brute Alpin? Wenn ja welches und warum?
KB: Mein Crush ist zweifellos der Julierturm. Man stelle sich vor: ein neunstöckiger, roter Theaterturm aus Holz – und dies auf dem Julierpass! Für bis zu 220 Zuschauer, muss auf 2300 Metern Höhe Windgeschwindigkeiten von bis zu 250 km/h standhalten und 2017 temporär errichtet. Kosten: 2,5 Millionen Franken. Der Turm avancierte zum kulturellen Leuchtturm Graubündens, bevor er im Spätsommer 2023 vollständig abgebaut wurde. Mehr Berge versetzende alpine Superpower geht nicht. Deshalb lebt der Turm als Plakat auf der Rückseite der Map weiter. 

Wie hast du die Objekte gefunden? Hast du aktiv danach Ausschau gehalten?
KB: Jede Map beginnt mit einer minutiösen Recherche. Aber es gibt auch einige Objekte, die ich unterwegs, per Zufall oder durch einen Tipp, entdeckt habe. Das ist das Schöne an der Carte Brute-Reise. Es gibt eine Route, einen Anfang und ein Ende. Aber das eigentlich Spannende sind die unerwarteten Begegnungen.

Brutalistische Kirche Eglise Saint-Nicolas im Kanton Wallis.

Die ehemalige Eglise Saint-Nicolas von 1770 in Hérémence im Kanton Wallis wurde 1946 durch ein Erdbeben beschädigt. 1968 wurde sie durch eine neue Kirche aus Beton ersetzt. Der Entwurf stammt vom Architekten Walter Maria Förderer. 

Wie lange hast du an der Carte Brute Alpin gearbeitet?
KB: Insgesamt drei Jahre. Auf die ersten Objekte stiess ich bei der Arbeit für das Erstlingswerk Carte Brute Schweiz im Jahr 2020. In den folgenden zwei Jahren musste ich mir erst die nötige Kondition und Trittsicherheit fürs hochalpine Terrain antrainieren - ich bin ja immer mit voller Kameraausrüstung und Laptop unterwegs. Richtig los ging es im Herbst 2022. Hauptsächlich war ich diesen Frühling und Sommer auf Wanderschaft.

Du hast bestimmt einiges auf deiner Reise erlebt. Kannst du uns eine deiner liebsten Anekdoten verraten?
KB: Als ich das Zelthaus auf der Rigi fotografierte, stürmte eine Kuh im Vollgallop um die Ecke. Zum Glück wollte sie nur Streicheleinheiten.

Der Erweiterungsbau des Bündner Kunstmuseum in Chur von den Architekten Barozzi/Veiga.

Trigon Ferienhaus: Ein Holzzelt als Ferienhaus und Neuinterpretation der Skihütte auf 2000 m.ü.Meer in Saflisch.

Im Mai wurde dein Account auf Instagram mit 10k Followern und über 10 Jahre Arbeit gehakt. Wie geht es dir heute damit?
KB: Klar ist es immer noch der ultimative Supergau, wenn dein Hauptkommunikationkanal auf einen Schlag weg ist. Inzwischen bin ich bei rund 400 Followern. Auch Nicht-Mathegenies können sich leicht ausrechnen, dass der Weg zurück zu den 10K Followern brutal lang und steil wird. So oder so habe ich mich auf strikte Social Media-Diät gesetzt. Sie lautet: So wenig wie möglich und so viel wie nötig. Was zählt, sind echte Freunde und Begegnungen im richtigen Leben.

Du hast sofort einen neuen Account kreiert, wo du deine Leidenschaft für Brutalismus weiter mit uns teilst. Was hat dich motiviert, wieder von 0 anzufangen?
KB: Es gab und gibt viel Unterstützung aus der Community. Die Anteilnahme stärkt und motiviert. So mühsam ein Neustart auch sein mag, er hat immer etwas unglaublich Befreiendes. Und: Sich neu zu erfinden und nach vorne zu blicken, gehört schliesslich zur HEARTBRUT-DNA. Also: Packen wir's an – mit frischen Themen und Formaten, auch jenseits von Brutalismus.

Was hast du aus den vergangenen Monaten mitgenommen?
KB: Die Reise geht weiter. Sie muss weitergehen.

www.heartbrut.com

 

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