Sanft eingebettet

Holzbau in Grimisuat (VS)

Als wäre er Teil der Landschaft fügt sich der Flachdachbau harmonisch in die Umgebung ein.

Für die Vertreter der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik war die Bergwelt ein erhabener, von Gegensätzen geprägter Ort. Sie symbolisierte sowohl ersehnte Ruhe als auch schmerzhafte Einsamkeit, war zugleich Schauplatz von Momenten der unbändigen Freude sowie der tiefen Trauer. Auch die Gemeinde Grimisuat, ein 3500-Seelen-Dorf im schweizerischen Kanton Wallis, ist ein Ort der Kontraste und entspricht dem romantischen, zwiespältigen Bild der alpinen Welt auf moderne Weise. 
Einerseits ist Grimisuat von einer monumentalen Bergszenerie umgeben und bietet talwärts wie auch in Richtung der umliegenden Alpen einen atemberaubenden Ausblick. Andererseits droht das Bergdorf, genauso wie die benachbarten Gemeinden, von der sich stetig ausbreitenden Infrastruktur des Rhonetals verschlungen zu werden. Viele Häuser in der Gegend werden daher nach einem Prinzip gebaut, das die unliebsamen Seiten des Standortes weitgehend verbergen soll: Ihre Wohnfläche erstreckt sich über mehrere, auf einem Sockel platzierte Etagen und überragt damit das Geschehen in Bodennähe. Auf diese Weise wird maximale Aussicht generiert und gleichzeitig werden Schwierigkeiten mit dem steilen Untergrund minimiert. Trotz funktioneller Vorzüge stellen diese Gebäude einen harschen optischen Bruch zur umliegenden, einst idyllischen Landschaft dar. 
Das Lausanner Architekturbüro Tempesta Tramparulo hat sich für eine Strategie entschieden, die das Einfamilienhaus grund­legend von seinen Nachbarbauten unter­scheidet: Maurizio Tempesta, Antonio Tramparulo und ihr Team haben in Hanglage einen Flachdachbau konzipiert, der aus lediglich einer Etage besteht und sich auf Bodenhöhe diagonal durch das Gefälle windet. Für die bestmögliche Aussicht und maximalen Lichteinfall sorgen hierbei nicht die Höhe, sondern die präzise Platzierung der Gebäudeöffnungen gegen aussen. 

Die vertikalen Fassaden­zwischenräume sorgen im Inneren des Hauses für lebhafte Licht- und Schattenspiele. 

 

Als Verbindungsglied zwischen dem Haus und seinem Umland dienen nebst mobilen Fassadenelementen regelmässig angeordnete Zwischenräume in der Holzverkleidung. Die vertikalen Lücken in der Fassade nehmen die Rolle eines natürlichen Lichtregulators und subtilen Mediators zwischen Innen- und Aussenbereich ein. Dank den Licht- und Blickdurchlässen geniesst man im Inneren des Hauses von beinahe überall freie Sicht nach draussen. Zudem sorgen sie im Inneren der Räumlichkeiten für lebhafte Spiele mit dem einfallenden Licht. Da die Gebäudefassade über keine gros­sen, opaken Flächen verfügt, scheint das Haus in ständigem Dialog mit seiner Umgebung zu sein. Die Frontseite ragt in Richtung Süden und damit einem beeindruckenden Panorama entgegen. Die Öffnungen an der West- und Ostseite erlauben dem Sonnenlicht ganztägigen Einfall in das Haus und erwecken den Anschein, als würde sich das Gebäude im Takt des Tages drehen. Von der nördlichen Fassade des Hauses blickt man auf den ansteigenden Berghang. Die Nähe zum steilen Gefälle könnte die hier gelegenen Räume dunkel erscheinen lassen. Da diese Zimmer von Licht aus Osten und Westen durchflutet werden, erscheinen sie jedoch offen und hell. 

Der permanente Lichteinfall durch die Fassadenzwischen­räume lässt das Haus aussergewöhnlich hell erscheinen. 

 

Durch die Form des Hauses und die intelligente Anordnung der Licht- und Blickdurchlässe ist es den Architekten gelungen, die komplexe Umgebung in das Projekt miteinzubeziehen und zu honorieren. Dank der ständigen optischen Verbindung zwischen Innen- und Aussenbereich scheinen von Natur und von Menschen geschaffene Elemente in einer versöhnlichen Wechselwirkung zu harmonieren. Die Hausfassade aus Holz verstärkt diesen Eindruck: der natürliche Werkstoff agiert als Trennlinie zwischen Gebäude und Natur, ohne einen zu harschen, optischen Eingriff in die Landschaft darzustellen. Sowohl die Wahl des Materials als auch die vertikalen Zwischenräume lassen das Gebäude eher wie einen natürlichen als einen künstlich erschaffenen Bestandteil der Szenerie erscheinen. Auch gewisse Elemente der Innenausstattung sind aus Holz gefertigt und kreieren damit eine Art visuelles Echo zwischen dem Gebäude und den Wäldern der Umgebung. 

 

Die Innenausstattung aus Holz bettet das Haus harmonisch in die natürliche Umgebung ein.

Der Grad der Sorgfalt, den bereits die Fassadendetails erkennen lassen, wird im Inneren des Hauses gar noch gesteigert. Hochwertiges Design, sanfte Farben und natürliche Materialien kreieren eine stilvolle Wohnatmosphäre, die aber stets den Bezug zu der rustikalen Szenerie ausserhalb des Gebäudes behält. Diese simultane Berücksichtigung von hohen Qualitätsansprüchen sowie der Honorierung des Standortes ist sinnbildlich für das Projekt. Den Höhepunkt erreicht das Wechselspiel zwischen Bauwerk und Natur in dem gegen Süden ausgerichteten Wohnzimmer. Von innen geniesst man mittels einer raumhohen Fensterfront freie Sicht auf das beeindruckende Bergpanorama, von aussen blickt man ebenso ungestört auf die reich bestückte Bibliothek und einige weiteren Elemente der hochwertigen Innenverkleidung. Der ungestörte Blick in beide Richtungen und die farblich, materiell und stilistisch aufeinanderabgestimmten Innen- und Aussenbereiche vereinen Bauwerk und Natur zu einem harmonischen Gesamtbild. Grimisuat mag eine von Gegensätzen geprägete Gemeinde sein – das von Tempesta Tramparulo gebaute Einfamilienhaus könnte den optisch wie auch bautechnisch anspruchsvollen Bedingungen kaum rücksichtsvoller und intelligenter begegnen.

 

Die bodennahe Lage des Hauses ist ungewöhnlich für seinen Standort. 

Im Rahmen der SIA-Tage vom 9. - 10. und 16. - 17. Juni 2018 kann das Haus in Grimisuat besichtigt werden. Rund 300 Gebäude und Ingenieurbauwerke stehen den Besuchern an diesen zwei Wochenenden offen. Alle Informationen finden Sie unter: www.sia-tage.ch 

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