Tradition & Moderne

Der Architekt Norbert Möhring und seine Reetdachhäuser

Der Bauherr taufte sein stattliches Ferienhaus «Seestück». Doch auf die See, aufs Meer blickt man von dem Haus im Ostseebad Prerow nicht, dafür auf ein weites Wiesenmeer. Weniger weit, aber ähnlich kontemplativ. Das reetgedeckte Giebelhaus mit der weichen Silhouette fügt sich nahtlos in die grüne Landschaft des Darss – jener langen Halbinsel, die sich östlich von Rostock weit in die Ostsee hinausschiebt. Auch wo man das Meer nicht sieht, gewahrt man nach kurzer Zeit das besondere Licht dieser Landschaft. Weich, aber intensiv tritt es schon früh am Tag ins Haus, erfüllt den zweigeschossigen Wohnraum in seiner Mitte. Seine Ostseite flankiert eine Terrasse für den Morgen, seine Westseite eine identische für den Sundowner; so folgt das Leben dem Weg der Sonne. In den Seitentrakten hinter der Wohnküche sind die Sauna und ein weiterer Schlafraum angefügt.

Die strenge Symmetrie des Hauses nimmt seinem hohen Steildach jeden Anflug von Biederkeit. Der Architekt Norbert Möhring nennt sein Werk einfach Reetdachhaus – nach der Bezeichnung für die Handwerkskunst, Dächer mit Reet, also getrocknetem Schilfrohr, zudecken. An der norddeutschen Küste hat das eine lange Tradition. Diese Naturdächer können – von Zeit zu Zeit ausgebessert – Jahrzehnte halten. Das Land Mecklenburg-Vorpommern liess das Reetdach-Handwerk von der Unesco 2014 als immaterielles Kulturerbe der Region eintragen. Nobert Möhring kam vor einigen Jahren in den Sinn, dieses ortsbildprägende Handwerk mit zeitgenössischen Formen zu verbinden.  Am Haus in Prerow machte er die traditionsreiche Dacheindeckung zur Gebäudehülle: Das Reetdach endet nicht an der Traufe, sondern geht nahtlos in die Seitenwände über, wodurch der Baukörper regelrecht von dieser organischen Hülle umschlossen wird – ein verblüffender Anblick. So raumbildend eingesetzt, hat man das jahrtausendealte Baumaterial noch nicht gesehen. Vor allem die Übergänge zwischen geneigtem Dach und Seitenwänden sowie das Ausbilden der Aussenwölbungen erfordern einiges an handwerklichem Können. Möhring berichtet, dass es nicht einfach war, einen Reetdachdecker zu finden, der bereit war, sich auf dieses Experiment einzulassen. Daraus entwickelte sich eine langjährige Arbeitspartnerschaft.

 

Beim Reetdachhaus in Prerow umschliesst die Schilfhülle den Baukörper fast rundum – Ansicht vom Garten.

www.seestueck-prerow.de

Ein schlichter Stahlkubus bildet zusammen mit dem Reetdachhaus einen geschützten Terrassenbereich.

Zwei Terrassen flankieren die Wohnküche des Reetdachhauses. Das Wohnzimmer erweitert sich ins Freie.

Vom zentralen Wohnzimmer ist der Blick frei in die grüne Landschaft um Prerow.

Wo immer es geht, gestaltet Norbert Möhring die Hauptwohnräume der Häuser doppelstöckig.

Vorgerosteter Stahl im Sockel, Reet im Giebel – zur Strassenseite hin gibt sich das Haus verschlossen.

An der Strassenseite kombiniert der Architekt die warmgraue Reethülle mit vorgerostetem Stahl. Denn der rostrote Stahl und das Schilfrohr, so Möhring, sind beides Materialien, «die dem oft rauen Klima hier oben gut trotzen können und dennoch schön altern». Diese Kontraste passen gut in die Landschaft. Unweit von Prerow beginnt der wild-malerische Weststrand. Er gilt als einer der schönsten Strände Europas, weil das Meer hier im Nationalpark unmittelbar auf den dichten Buchen- und Kiefernwald der Halbinsel trifft. So prägen neben den feinsandigen Dünen die Windflüchter das Bild des unbesiedelten Küstenstreifens, vom stetigen Wind seitwärts gedrückte Bäume; manche von ihnen liegen später entwurzelt am Strand, denn mit jedem heftigen Sturm frisst sich das Meer ein Stück weiter ins Land.

Portrait des Architekten Norbert Möhring in schwarzem Rollkragenpullover neben einer spiegelnden Glaswand stehend.

Norbert Möhring betreibt seit 2005 erfolgreich sein eigenes Architekturbüro in Berlin und Born auf Darss.

Als Norbert Möhring, der sein Hauptbüro in Berlin unterhält, 2005 auf einem schmalen Grundstück in Born, im Hinterland der Halbinsel, sein privates Wohnhaus baute, ahnte er nicht, dass dieses schlichte, spitzgieblige Holzhaus der Beginn einer erstaunlichen Erfolgsgeschichte sein würde – denn seitdem konnte der heute 55-Jährige in den Darss Orten zwei Dutzend grosse und kleine Projekte realisieren. Alles begann damit, dass einem Nachbarn in Born Möhrings Haus gefiel, und er ihn für einen Umbau am eigenen Gebäude anfragte. Rasch folgten erste Neubauten. Ein Grund für diesen guten Start war wohl, dass Norbert Möhring etwas an der Ostseeküste noch immer Rares mitbrachte, nämlich Originalität und architektonisches Format.

Der Baukörper des Rohrdachhauses positioniert sich zentral auf der nördlich gelegenen Grundstückshälfte, mit Vorgarten und grosszügigem Südgarten.

Das Haus auf Stelzen mit seinem offenen Wohnraum öffnet sich nach Süden in den Garten.

Die Strassenansicht ist dagegen geschlossen und zurückhaltend gestaltet.

Der Wohn- und Essbereich sowie die Küche bilden einen grossen offenen und lichtdurchfluteten Lebensraum.

Er stellte der belanglosen Dutzendware jener Ferienhäuser, die entlang der Ostsee seit den 1990er-Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen, eine geradlinige, jedoch durch Material und architektonische Motive auf den Ort reagierende Modernität entgegen. Ein Regionalismus als gelungener Balanceakt – weder biedert sich der Architekt nachahmend an die tradierte Bauweise der Küste an noch nutzt er ihre Elemente bloss als dekoratives Zitat. Die so entstandenen Bauten brachten Norbert Möhring zahlreiche Auszeichnungen ein.

Mit den Jahren hat der Architekt dabei so etwas wie eine Philosophie der Landhausarchitektur entwickelt. Wer in Berlin oder Hamburg daheim stilvoll wohnt, möchte das auch im Urlaub. «Und zugleich gerne anders, ungezwungener als im Alltag», meint Norbert Möhring. «Eventwohnen» lautet die Antwort auf dieses Bedürfnis. «Es geht um Gemeinschaft, Musse, die Zeit, gemeinsam zu kochen oder ums Feuer zu sitzen», sagt der Architekt. Deshalb bildet eine weitläufige, mit allen Finessen ausgestattete Wohnküche den Mittelpunkt fast aller Häuser, vorzugsweise mit grossen Öffnungen zu Terrassen und Garten.

Prägend für die Gestalt des Hauses in Wieck ist die schwarz eingefärbte, vertikale Holzschalung, dessen Bretter geschuppt angebracht sind. www.quartier-wieck.de

Die Küche und der Essbereich bilden das Herzstück des Hauses. Der Blick in die Umgebung sowie hinauf unters Dach ist frei.

Der schlichte Wohnraum mit Feuerstelle und Blick in den Garten strahlt moderne Gemütlichkeit aus. 

Gleich neben dem Essplatz führt eine filigrane, weisse Stahltreppe ins Obergeschoss – und akzentuiert zugleich den Raum. Jeder, der zum Frühstück erscheint, wird mit grossem Hallo begrüsst. Ein Haus wie eine grosse Bühne. Bei aller Offenheit bieten Möhrings Häuser auch Rückzugsräume für die nötige Behaglichkeit an Schlechtwettertagen. Einen anderen, noch eine Spur persönlicheren Akzent gewinnt dieses Konzept weiter östlich, auf der Insel Usedom. Dort errichtete Norbert Möhring in einem Kiefernhain nah am Meer das «Panoramahaus». Die Innenarchitektur stammt vom isländisch-schwedischen Duo Annetta Kristjánsdóttir und Ellinor Belvén, die gemeinsam in Berlin das Studio Salty Interiors betreiben.

Die Bauherren des Hauses auf Usedom bieten ihren Gästen auf 170 Quadratmetern nicht nur ein sorgfältig ausgestattetes Urlaubsrefugium, sondern teilen mit ihnen auch die eigene Kunstsammlung und Bibliothek. Und im Vorratsraum hält die «Vinothek des Vertrauens» gegen Unkostenbeteiligung eine gepflegte Auswahl feiner Tropfen bereit. Das Panoramahaus hat die nüchterne Gestalt eines liegenden Quaders, das auskragende Obergeschoss verkleidet mit filigranen, senkrechten Holzlamellen. Das beidseitig verglaste Erdgeschoss geht fliessend in den Garten über. Beschirmt wird es von einem Kupferdach. Kein Reet, keine traditionelle Hausform – auf den ersten Blick verbindet dieses Gebäude wenig mit Möhrings Häusern auf dem Darss. Das Bindeglied bilden neben den durchdachten Details die einfachen, sinnlichen Materialien, die durch ihr Altern an Ausdruck gewinnen. Neben den Reetdächern etwa vorgerosteter Stahl, dunkles Holz, Naturstein, Kupfer, Ziegelmauerwerk.

Kiefern, blauer Himmel, Holzlamellen – Gartenseite beim Panoramahaus in Zinnowitz, Usedom. www.panoramahaususedom.de

Kunstwerke aus der Sammlung der Gastgeber geben dem Ferienhaus eine persönliche Note.

Im Wohnzimmer kann man einen trüben Regentag gut überstehen.

Dunkel- und hellgrau sowie weiss – die Wohnküche mit Kochinsel im Panoramahaus.

Die Designerinnen von Salty Interims haben ein nordisch gemütliches und modernes Ambiente geschaffen, so auch in den Schlafzimmern.

Roman statt Strand – ungestörte Lektüre in einem bequemen Sessel der Schlafräume.

Die Sauna im Schlafgeschoss verspricht zusätzliche Entspannung.

Das Panoramahaus macht seinem Namen alle Ehre – Subdowner-Blick von der Terrasse.

Hinter dem Berliner Kreativstudio Salty Interiors stehen die Isländerin Annette Kristjansdottir und die Schwedin Ellinor Belvén. www.saltyinteriors.com

Wie aber schafft man es, den Bauherren ein Ferienhaus mit Klasse zu bieten und sich dabei nie selbst zu kopieren? «Wenn ich einen neuen Auftrag erhalte, versuche ich alle früheren Häuser zu vergessen», sagt der Architekt. Oft hilft dabei der erste Termin am geplanten Bauplatz. Abhängig von Umgebung, Lichtverhältnissen und Raumbedarf überlegt er dann, wie das Haus am besten auf dem Grundstück stehen sollte. Ein Hauskonzept, das an einem Standort perfekt funktioniere, sei nur selten auf einen anderen Platz übertragbar. «Ich will, dass jedes Projekt am Ende eine Besonderheit hat, die es von allen anderen unterscheidet», betont Norbert Möhring.

Dennoch gibt es Elemente, die er bei möglichst vielen Häusern umzusetzen versucht. Dazu gehört ein intensiver Bezug der Hauptwohnräume zum Garten, möglichst nach zwei Richtungen. Und sehr gerne Schlafräume im Erdgeschoss. Ganz nah bei der Natur sein. «Wann, wenn nicht im Urlaub am Meer, hat man die Gunst, morgens aufzuwachen, die salzige Luft und den Duft der Gräser zu atmen und drei Minuten später barfuss über die tauglänzende Wiese zu laufen?», sagt der Architekt. Wer will da widersprechen?

www.moehring-architekten.de

 

Der Artikel erscheint in der Juli-August-Ausgabe der Zeitschrift Atrium.